Subsidiarität – ein Grundprinzip der EU: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
von Reinhold Lopatka, 22.10.2018Subsidiarität ist eines der wichtigsten Organisationsprinzipien der Europäischen Union (EU) und kann aus politischer, rechtlicher und administrativer Sicht betrachtet werden. Politisch erfasst das Subsidiaritätsprinzip die Diskussion, wenn Mitgliedstaaten Forderungen nach supranationalen Behörden stellen (EU-Außengrenzschutz) und in anderen dagegen Vorbehalte äußern, wenn EU-Richtlinien als weniger sinnvoll erachtet werden (Wasserrichtlinie).
Rechtlich bestimmt das Subsidiaritätsprinzip, wie es in Artikel 5 des Vertrags von Lissabon über die Europäische Union (EUV) festgelegt ist, ob Maßnahmen auf europäischer oder auf staatlicher Ebene ergriffen werden sollten, und trägt somit zur Beilegung von Streitigkeiten über die Aufteilung der Zuständigkeiten bei. Die Verfahren zur Überwachung der Einhaltung der Subsidiarität sind im Protokoll Nr. 2 festgelegt, wobei die nationalen Parlamente an erster Stelle stehen.
Im Hinblick auf administrative Anpassungen haben die Europäische Kommission und die nationalen Parlamente in Verfahren investiert, um bestimmte Regulierungsgrundsätze bei politischen Entscheidungen konsequenter anzuwenden.
Arbeit der Task Force „Subsidiarität und Proportionalität“
Seitens des österreichischen Vertreters in der Task Force wurden 50 konkrete Vorschläge eingebracht. Viele Forderungen fanden Eingang in den Bericht, der ein Mehr an gelebter Subsidiarität fordert. Wesentliche Punkte wurden jedoch nicht berücksichtigt.
Am 14. November 2017 setzte der Präsident der Europäischen Kommission Juncker die „Task Force für Subsidiarität, Proportionalität und ‚Weniger, aber effizienteres Handeln‘“ mit neun Mitgliedern (drei aus nationalen Parlamenten, drei vom Ausschuss der Regionen und drei aus dem Europaparlament) ein. Das Europaparlament verzichtete auf eine Mitarbeit in der Task Force. Den Vorsitz führte der Erste Vizepräsident der Europäischen Kommission Frans Timmermans. Österreich war durch den Vorsitzenden des Europaausschusses im Nationalrat, Reinhold Lopatka, vertreten.
Das österreichische Parlament und die Bundesländer engagieren sich stark in Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsfragen. Auf parlamentarischer Ebene sieht ein spezifischer Verfassungsmechanismus eine Verknüpfung verschiedener Akteure vor: Der Bundesrat informiert die Landtage unverzüglich über neue EU-Legislativvorschläge und gibt ihnen die Gelegenheit zur Stellungnahme.
Subsidiarität ist auch eine Schlüsselpriorität der neuen österreichischen Bundesregierung, welche eine Weiterentwicklung der Union entsprechend dem Szenario „Weniger, aber effizienteres Handeln“ nachdrücklich unterstützt und diese Position auch ausdrücklich im Regierungsprogramm festgehalten hat.
Österreich leistete auf der Grundlage dieser Erfahrungen die meisten Beiträge der 28 Mitgliedsstaaten zur besseren Anwendung der Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, um die Einbindung der regionalen und lokalen Ebene zu verbessern und Politikbereiche zu identifizieren, für die die Verantwortung an die Mitgliedstaaten teilweise zurückübertragen werden könnte.
Auf der anderen Seite wurden auch Politikfelder genannt, wo mehr an Entscheidungskompetenz auf die europäische Ebene verlagert werden sollte (Schutz der Außengrenzen, Migrationspolitik, Verteidigungspolitik, Digitalisierung etc.). Subsidiarität bedeutet weniger Europa, wo es keinen Mehrwert dadurch gibt, aber auch ein mehr an Europa dort, wo wir gemeinsames europaweites Vorgehen brauchen.
Eine umfassende Darstellung der österreichischen Aktivitäten ist in der Reihe „AIES-Studies“ – „Die EU und die Mitgliedstaaten. Subsidiarität. Proportionalität. Weniger, aber effizienteres Handeln.“ unter https://www.aies.at/download/2018/AIES-Studien_2018-07.pdf abrufbar.
Endbericht der Task Force für Subsidiarität, Proportionalität und „Weniger, aber effizienteres Handeln“
Seitens des österreichischen Vertreters in der Task Force wurden 50 konkrete Vorschläge eingebracht. Viele Forderungen fanden Eingang in den Bericht, der ein Mehr an gelebter Subsidiarität fordert. Wesentliche Punkte wurden jedoch nicht berücksichtigt.
Von Österreich eingebrachte Punkte, die sich im Endbericht wiederfinden:
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Verlängerung der Frist für die Subsidiaritätsprüfung durch die nationalen Parlamente von acht auf zwölf Wochen. Die dafür nötige Vertragsänderung sollte bei nächster Gelegenheit erfolgen. Zusätzlich soll die Kommission bereits jetzt die Achtwochenfrist flexibler handhaben. Der Umgang der Kommission mit Stellungnahmen der nationalen Parlamente und der Regionalparlamente soll verbessert werden. (Empfehlungen 2 und 3)
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Bessere Einbindung und Sichtbarkeit der regionalen und lokalen Ebene durch Verbesserungen bei Folgenabschätzungen, Konsultationen und im Gesetzgebungsverfahren. (Empfehlungen 4 und 5)
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Identifikation von Bereichen, die im Hinblick auf Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit problematisch sind: Die Task Force konnte im Ergebnis zwar keinen Konsens zu den österreichischen Vorschlägen (z.B. Kohäsionspolitik, Boden- und Naturschutz) erzielen, es soll jedoch ein Mechanismus zur Identifikation und Evaluierung von Gesetzgebung im Hinblick auf Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit von der Kommission entwickelt werden. (Empfehlung 8)
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Delegierte Akte und Durchführungsrechtsakte: Empfehlung an Rat, Parlament und Kommission zu einem zurückhaltenderen Einsatz dieser Instrumente, die nicht unter die Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente fallen. (Empfehlung 9)
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Effektive Umsetzung bestehender Regelungen soll in bestimmten Politikbereichen Vorrang haben vor der Schaffung neuer Regelungen (Empfehlung 9)
Eingebrachte Vorschläge, für die im Endbericht kein Konsens erzielt werden konnte:
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Absenkung des Quorums der Stimmen der nationalen Parlamente im Subsidiaritätskontrollverfahren für die „Gelbe Karte“ von einem Drittel auf ein Viertel, jenes für die „Orange Karte“ von der einfachen Mehrheit auf ein Drittel.
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„Späte Karte“ - Die Einführung einer „Späten Karte“ würde den nationalen Parlamenten das Recht zugestehen, Entwürfe für Rechtsakte am Ende der Verhandlungen zwischen der Kommission, dem EP und dem Rat einer zweiten Subsidiaritätsprüfung zu unterziehen.
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„Grüne Karte“ für die nationalen Parlamente zur Erweiterung des politischen Dialog mit dem Ziel, dass neue EU-Gesetzgebung initiiert oder bestehende geändert wird
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Vorrang für Richtlinien vor Verordnungen
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Durchgehende Durchsetzung des Grundsatzes „one in, one out“: Ein neuer Vorschlag der Kommission nur dann, wenn sie gleichzeitig einen Vorschlag für die Aufhebung einer EU-Vorschrift macht
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Die Verabschiedung eines Subsidiaritätspaktes und eine rechtlich verbindliche Definition von Subsidiarität
Der gesamte Report der Task Force „Active Subsidiarity – A new way of working“ ist unter https://ec.europa.eu/commission/priorities/democratic-change/better-regulation/task-force-subsidiarity-proportionality-and-doing-less-more-efficiently_en abrufbar.
Fortsetzung der Arbeit
Bei einer Subsidiaritätskonferenz der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft im November in Bregenz findet die Arbeit zu diesem Thema eine Fortsetzung. Auch die Konferenz der Europaausschüsse (COSAC), in der seit 1989 Abgeordnete der Mitgliedsstaaten und der EU-Beitrittsanwärter interparlamentarisch zusammenarbeiten, hat dieses Thema auf der Tagesordnung.
Informationen zu Reinhold Lopatka

reinhold.lopatka@parlament.gv.at
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