Das bürgerschaftliche Defizit der Föderalismusdebatten in Österreich und Deutschland
von Roland Sturm, 18.01.2016Es geht in föderalen Verhandlungsprozessen auch um die Repräsentation von Werten und damit um jenen Orientierungsrahmen für politisches Entscheiden, der als Kompass für Präferenzbildung bei unterschiedlichen Optionen zur Ausgestaltung des Föderalismus gelten kann. Gerechtfertigt wird das Ignorieren der Wertedimension bei Föderalismusdebatten mit der Konstruktion von Sachzwängen, die Entscheidungspfade vorgeben, sowie der heute angeblich herrschenden postmodernen Beliebigkeit bzw. Individualisierung normativer Zuordnungen. Dies leistet einer Art „normativem Reduktionismus“ Vorschub. Der Föderalismus müsse nicht geliebt werden, er habe sich zu bewähren, wäre hierfür eine griffigere Formel. Das Ignorieren regionalgesellschaftlicher Identitäts- und Willensbildung und ihrer möglichen Widerspiegelung in effizienten Partizipationsformen wird deshalb nicht als Mangel empfunden. Die Chancen der Teilhabe nicht nur als Recht regionaler Gesellschaften, sondern auch als Weg zur politischen Effizienzerhöhung, werden damit in der Hierarchie demokratischer Zielvorstellungen deutlich niedriger eingestuft als das Interesse der Bürger an staatlichen Leistungen.
Leider ist dieses „bürgergesellschaftliche Defizit“ der Föderalismusdebatte schon so habitualisiert, dass bei der Suche nach einer Neuorientierung des Föderalismus eine demokratietheoretische Begründung regelmäßig zu kurz kommt. Wenn der heutigen Föderalismusdebatte der Vorwurf gemacht werden kann, sie traue der Gesellschaft zu wenig demokratische Reife, Gestaltungsfähigkeit und Gestaltungswillen zu, so gilt umgekehrt für die Bürgergesellschaftsdiskussion, dass diese merkwürdig institutionenvergessen auftritt. „Jenseits von Markt und Staat“ liegt - so das Credo der Kommunitaristen - vor allem das Feld der Selbstorganisation der Bürger. Ehrenamt und freie Assoziation, Selbststeuerung und Betroffenheit, Netzwerke und Gemeinschaft prägen den Kosmos bürgerschaftlichen Engagements. Bürgergesellschaftlich relevante Institutionen sind vor allem transitorische Arrangements mobilisierter Bürger. Verfassungsinstitutionen spielen eine geringe Rolle - ja es ist sogar so, dass die Bürgergesellschaft im Zweifel eher gegen sie als mit ihnen oder durch sie verwirklicht wird.
Die Strukturen des Föderalismus gehören ganz zweifellos zu jenen strukturierten Vorgaben einer politischen Einheit, auf die sich Bürgerinnen und Bürger als Orte bürgerschaftlicher Selbstbestimmung beziehen können. Dies setzt allerdings auch gesellschaftliche Relevanz für eine politische Kultur des Föderalismus voraus. Das Grundproblem für den Föderalismus in Debatten, die sich mit den Grundlagen einer partizipatorischen Demokratie beschäftigen, scheint zu sein, dass solche Debatten den Föderalismus inzwischen relativ unreflektiert als bürgerferne „Superstruktur“ einordnen, die keine herrschaftsfreie Deliberation in einer authentischen Öffentlichkeit ermöglicht.
Der Verdacht drängt sich auf: Hier werden dem Föderalismus nicht seine konzeptionellen, sondern seine empirischen Defizite zum Verhängnis. Selbst wenn die bürgergesellschaftliche Debatte das vorhandene institutionelle Inventar einer Gesellschaft in ihre Überlegungen unzureichend einbezieht, was schwerlich begründet werden kann, ist damit die Verbindung mit dem Wertesystem des Föderalismus nicht schon verloren gegangen. Die bürgergesellschaftliche Debatte trifft sich mit der Föderalismusdebatte wieder im Grundsätzlichen, wenn auch reichlich Vagen: Ziel aller Verfechter der Bürgergesellschaft ist es, einen Beitrag zur Effizienzerhöhung von Demokratien zu leisten und demokratische Normen zu stärken. Ebenso wie eine Bürgergesellschaft ohne Demokratie undenkbar scheint, gilt dies für den Föderalismus ohne demokratisches Gemeinwesen, auch wenn die bereits erwähnte Abkoppelung föderaler Verfahren von ihrer Letztbegründung einige Sozialwissenschaftler dazu verleitet hat, Föderalismus und Dezentralisierung in eins zu setzen oder gar Föderalismus in einem undemokratischen Umfeld für möglich zu halten. Diese grundsätzliche Übereinstimmung der politischen Gestaltungsziele von Bürgergesellschaft und Föderalismus bedarf immer wieder der Konkretisierung und der argumentativen Vermittlung.
Fotocredit: FAU/Harald Sippel
Informationen zu Roland Sturm
Professor Dr. Roland Sturm, Professor für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat zahlreiche Beiträge zum Föderalismus in Deutschland und in vergleichender Perspektive veröffentlicht. Zum Föderalismus hat er u.a. folgende Bücher veröffentlicht: „Föderalismus“ (2010) und „Der deutsche Föderalismus“ (2015), beide im Nomos Verlag.
roland.sturm@fau.de
Zur Übersicht