Das Europarecht als Katalysator der Verfassungsgerichtsbarkeit
von Gerhart Holzinger, 23.04.2018Unter dem Titel „Die Verfassungsgerichtsbarkeit: Wesen – Entwicklung – Herausforderung“ hielt der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Dr. Gerhart Holzinger, im Rahmen einer Veranstaltung der Tiroler Juristischen Gesellschaft und des Instituts für Föderalismus einen viel beachteten Vortrag, den wir Ihnen in fünf Teilen zur Kenntnis bringen möchten. Die Redaktion
Maßstab für die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns sind vor allem die in der Verfassung verankerten Grundrechte oder, in der Terminologie der Bundesverfassung, die "verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte".
Der Grundrechtsschutz, also die Sicherung der Wirksamkeit der Grundrechte als Schranke staatlichen Handelns, bildet die aus rechtsstaatlicher Sicht bedeutsamste Funktion des VfGH. Er nimmt diese Aufgabe sowohl im Rahmen der Normenkontrolle als auch im Bereich der Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit wahr, also bei der Entscheidung über Beschwerden gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte.
Die Wahrnehmung dieser Aufgabe steht freilich – nicht zuletzt wegen des weitgehenden Fehlens eines umfassenden genuin österreichischen Grundrechtskataloges seit Langem im Zeichen einer Europäisierung des Grundrechtsschutzes, deren Anfänge in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückreichen.
Ich meine damit vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950. Österreich ist seit 1958 Partei dieses Übereinkommens. Die EMRK wurde zudem als "verfassungsändernd" genehmigt;[1] sie steht damit im Rang eines (Bundes?)Verfassungsgesetzes. Die durch die EMRK gewährleisteten Rechte und Freiheiten können daher auch beim VfGH geltend gemacht werden; insbesondere bilden sie einen Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze.
Bei der Anwendung der EMRK folgt der Verfassungsgerichtshof grundsätzlich der Rechtsanschauung des EGMR,[2] dessen evolutiv-dynamische Auslegung der EMRK der Rechtsprechung des VfGH immer wieder wichtige Impulse gegeben hat.[3] Es gibt nur wenige Fälle, in denen der Verfassungsgerichtshof – stets nach eingehender Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR – diesem mehr oder weniger offen die Gefolgschaft verweigert hat.[4]
Unter dem Einfluss der Straßburger Judikatur hat sich in Österreich ein materielles, von zweckbezogenen Überlegungen und Abwägungen bestimmtes Verständnis der Grundrechte durchgesetzt, das auch der Rechtsprechung des VfGH eine spezifische Dynamik verliehen hat.[5] Vor allem hat sich der Verfassungsgerichtshof den Gedanken zu eigen gemacht, dass Grundrechte, die unter Gesetzesvorbehalt stehen, nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit beschränkt werden dürfen. Für die Verfassungsmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs genügt es demnach nicht, dass der Eingriff "auf Grund der Gesetze" und ohne Verstoß gegen das "Wesen" des Grundrechts erfolgt; vielmehr ist ein solcher Eingriff nur dann zulässig, wenn er durch das öffentliche Interesse geboten, zur Zielerreichung geeignet, adäquat und auch sonst sachlich zu rechtfertigen ist.[6]
Das durch die EMRK geschaffene System des supranationalen Menschenrechtsschutzes ist bis heute weltweit einzigartig. Es bildet mit seiner Absage an das Prinzip, Menschenrechtsverletzungen ausschließlich als eine innerstaatliche Angelegenheit zu betrachten, zudem einen Meilenstein der europäischen Integration. Umso erfreulicher ist es, dass diesem System 47 von 49 Staaten Europas (ausgenommen der Heilige Stuhl und Belarus) angehören, darunter auch alle Staaten des ehemaligen Ostblocks.
Die EMRK fügt die staatlichen Gerichte und den EGMR zu einem Gerichtsverbund, in dem den Verfassungsgerichten eine ganz spezifische Rolle zukommt;[7] so vor allem die Funktion, die Rechtsprechung des EGMR innerstaatlich zu transformieren, aber auch – im Wege eines Rechtsprechungsdialogs mit diesem europäischen Gericht – weiterzuentwickeln. Dies entspricht auch dem Grundsatz der Subsidiarität des europäischen Menschenrechtsschutzes, wonach es in erster Linie Aufgabe der Gerichte – und im Besonderen der Verfassungsgerichte – der Vertragsstaaten ist, die Achtung der in dieser Konvention und den Protokollen verankerten Rechte und Freiheiten zu gewährleisten.[8]
Mit dem Vertrag von Lissabon hat der Schutz der Grund- und Menschenrechte auch in der Europäischen Union eine neue Qualität erlangt. Die bis dahin im Wesentlichen durch die Rechtsprechung des EuGH aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten entwickelten Grundrechte wurden in einer Charta der Grundrechte der EU kodifiziert und zu einer verbindlichen Rechtsquelle im Rang des Vertrages über die Gründung der Union erklärt. In einem richtungsweisenden Erkenntnis vom 14. März 2012[9] hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass die von der GRC garantierten Rechte vor dem Verfassungsgerichtshof als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte im Sinne der Bundesverfassung geltend gemacht werden können und einen Prüfungsmaßstab in Verfahren der generellen Normenkontrolle bilden. Diese in Europa bislang einzigartige Konstitutionalisierung der Grundrechtecharta unterstreicht zum einen die traditionell europarechtsfreundliche Haltung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes und bildet zum anderen einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Rechtsraumes.
[1] Art. II Z 7 B?VG-Novelle BGBl. 59/1964.
[2] So ausdrücklich VfSlg. 11.500/1987: Der Verfassungsgerichtshof sieht sich grundsätzlich gehalten, der EMRK als Verfassungsnorm jenen Inhalt zu unterstellen, der ihr auch als internationalem Instrument zukommt. Bei ihrer Auslegung ist daher der Rechtsprechung des EGMR als dem zur Auslegung der EMRK zunächst berufenen Organ besonderes Gewicht einzuräumen.
[3] Siehe zB VfSlg. 14.258/1995 (Rundfunkmonopol und Art. 10 EMRK; vgl. EGMR 24.11.1993, 13914/88, Informationsverein Lentia), 15.129/1998 (Anspruch auf Notstandshilfe als Eigentumsrecht iSd Art. 1 des 1. ZPEMRK; vgl. EGMR 16.9.1998, 17371/90, Gaygusuz), 17.659/2005 (Benachteiligung aus dem Grund der sexuellen Orientierung; vgl. EGMR 24.7.2003, 40016/98, Karner), 18.223 und 18.224/2007 (aufenthaltsbeendende Maßnahmen und Art. 8 EMRK; vgl. EGMR [GK] 18.10.2006, 46410/99, Üner), 19.166/2010 (gesetzliche Anerkennung als Kirche oder Religionsgesellschaft; vgl. EGMR 31.7.2008, 40825/98, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas), 19.704/2012 (Benachteiligung beim Erwerb der Staatsbürgerschaft aus dem Grund der unehelichen Geburt; vgl. EGMR 11.10.2011, 53124/09, Genovese).
[4] Siehe zB VfSlg. 11.500/1987 (civil rights and obligations; vgl. EGMR 28.6.1978, 6232/73, König), 18.833/2009 (ne bis in idem; vgl. EGMR [GK] 10.2.2009, 14939/03, Zolotukhin); VfGH 15.10.2016, G 7/2016 (ethische Überzeugung als Maßstab für die Verhältnismäßigkeit von Eigentumsbeschränkungen im Jagdrecht; vgl. EGMR [GK] 26.6.2012, 9300/07, Herrmann).
[5] Vgl. Grabenwarter, Der österreichische Verfassungsgerichtshof, in von Bogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg), Handbuch Ius Publicum Europaeum VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Institutionen (2016) 413 (460 ff.); Korinek, Von der Aktualität der Gewaltenteilungslehre, JRP 1995, 151 (161 f.).
[6] So zB in Bezug auf die Freiheit der Erwerbsausübung nach Art. 6 StGG VfSlg. 10.932/1986, 11.483/1987; zuletzt VfGH 12.12.2016, G 258/2016 mwN; vgl. EGMR 8.7.1986, 9815/82, Lingens.
[7] Von Bogdandy/Grabenwarter/Huber, Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum, in von Bogdandy/Grabenwarter/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum VI: Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa: Institutionen (2016) 1 (8 ff.) mwN.
[8] Vgl. Art. 1 EMRK. Mit dem 15. ZP soll dieser Grundsatz in der Präambel der Konvention ausdrücklich verankert werden.
[9] VfSlg. 19.632/2012.
Informationen zu Gerhart Holzinger
Univ.-Prof. Dr. Gerhart Holzinger war seit 1995 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, von Mai 2008 bis Ende 2017 dessen Präsident.
gerhart.holzinger@outlook.de
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