Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als moderner Gaius Julius Caesar?

von Christoph Müller, 27.08.2024

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und andere v. Schweiz im April 2024 muss sich nun auch Österreich vor dem EGMR rechtfertigen. Grund ist die Klage von Herrn Mex Müllner, der an einer speziellen Form Multipler Sklerose leidet. Seine Symptome würden sich durch die steigenden Temperaturen verschlimmern und Österreich sei mitverantwortlich, weil es bisher nicht genug gegen die Erderwärmung unternommen habe, lautet das Hauptargument.

Das Urteil des EGMR wirft angesichts des sich verschärfenden Klimawandels und der bisher unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen zentrale Fragen bezüglich des demokratischen Prozesses, der Gewaltenteilung, des Föderalismus und der Rolle der (Höchst)Gerichte bei der Auslegung von Menschenrechten auf.

 

Die Ursprünge der EGMR-Rechtsprechung in Umweltfragen

Das Umweltrecht zielt in einem ersten Schritt auf die Bewahrung des Einzelnen vor Belästigungen, Gefahren und Störungen ab. Dies erklärt, warum sich eine wesentliche Komponente des zivilrechtlichen Umweltschutzes im Nachbarrecht findet (§§ 364ff ABGB) und der Schutz des Privat- und Familienlebens gemäß Artikel 8 EMRK im Vordergrund der umweltschutzrelevanten Grundrechte steht. Unter Rückgriff auf die gewachsene EGMR-Rechtsprechung in Umweltfragen ist die zentrale Aussage in Verein KlimaSeniorinnen Schweiz, dass aus Artikel 8 EMRK staatliche Schutzpflichten (positive obligations) zur Bekämpfung des Klimawandels folgen, die die Schweiz bisher nicht ausreichend erfüllt habe.

 

Mischt sich der EGMR in die nationale Politik ein?

Das EGMR-Urteil stieß auf heftige Kritik. Die Schweizerische Volkspartei bezeichnete es als „dreiste Einmischung fremder Richter in die Schweizer Politik“ und forderte den Austritt der Schweiz aus dem Europarat. Die Aargauer Zeitung sprach von einer „Aushebelung der Demokratie“ und der ehemalige Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer erinnerte in der Neuen Zürcher Zeitung an Gaius Julius Caesar: „Die Grenzziehung zwischen Politik und Justiz – was ist Sache dieser, was ist Sache jener – ist das fundamentale Thema, seit es den demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung gibt. Dazu hat sich im Laufe der Jahrhunderte ein gesicherter Fundus an rechtlichen Einsichten und Erkenntnissen herausgebildet. Diesen wirft der EGMR mit seinem neuesten Urteil vollends über Bord. Der Rubikon ist überschritten – definitiv.“

Im Juni 2024 verdichtete sich die Kritik zum Beschluss der Bundesversammlung, dem Urteil des EGMR nicht Folge zu leisten. Nach dem Ständerat im Mai stellte der Nationalrat „besorgt fest, dass das Urteil (...) die Grenzen der dynamischen Auslegung überschreitet und der Gerichtshof dadurch die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung (...) überstrapaziert“, sich „dem Vorwurf eines unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus aussetzt“ und „in Kauf nimmt, dass seine Legitimität nicht nur von der Staatengemeinschaft des Europarats, sondern auch von den innerstaatlichen politischen Akteuren in den Vertragsstaaten in Frage gestellt wird“, was (...) zu einer Schwächung des effektiven Schutzes der Menschenrechte in Europa führen könnte.“ Er appellierte an den Gerichtshof, (...) „zukünftig den in der Konvention verankerten Grundsatz der Subsidiarität zu respektieren, (...) der staatlichen Souveränität und dem völkerrechtlichen Konsensprinzip die (...) gebührende Bedeutung beizumessen“ und „die demokratischen Prozesse der Vertragsstaaten zu achten.“

Zudem forderte er „den Bundesrat dazu auf, (...) das Ministerkomitee (...) zu informieren, dass die Schweizer Stimmbevölkerung das Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit vom 30. September 2022 angenommen hat, das ein Netto-Null-Ziel für 2050, ein Zwischenziel für 2040 sowie Durchschnittsziele für die Jahre 2031-2040 und 2041-2050 festlegt, dass die Bundesversammlung – in Umsetzung der internationalen Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris – die klimapolitischen Ziele und Maßnahmen bis 2030 am 15. März 2024 beschlossen hat, sodass keine Regelungslücke besteht; dass das Übereinkommen von Paris den Vertragsparteien nicht vorschreibt, nationale Treibhausgasbudgets auszuweisen, dass sich aber aus den bis 2050 festgelegten Durchschnittszielen der Schweiz letztlich ein Treibhausgasbudget ableiten ließe; dass die Schweiz ihre internationalen, völkerrechtlich verbindlichen Klima-Verpflichtungen bislang eingehalten hat, (...); dass die Schweiz daher keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April 2024 weitere Folge zu geben, da durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt sind.“

 

Die Ambivalenz und Differenziertheit des Urteils

Nicht wenige Kritiken wurde innerhalb von Minuten und Stunden nach der Urteilsverkündung am 9. April geäußert. Das verblüfft, denn die 17 Richterinnen und Richter der Großen Kammer haben es sich in ihrem 260-Seiten langen Urteil nicht leicht gemacht bzw. differenziert argumentiert und begründet. Im Kern stellte der EGMR die Frage nach der Legitimation von Maßnahmen gerade auch zum Schutz von Leben, Gesundheit und Eigentum vor Klimawandelfolgen, und, inwieweit dazu staatliche Handlungs- und Schutzpflichten bestehen können.

Dazu ist insbesondere die Klima-Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 ein Ausgangspunkt. Das Gericht erkannte in den Klimaschutzzielen des seinerzeitigen deutschen Klimaschutzgesetzes einen Eingriff in intertemporale Freiheitsrechte, weil der Zielpfad dieses Gesetzes für die Zeit nach 2030 in eine Situation führe, in der zur Umsetzung des 2050-Klimaneutralitäts-Ziels tiefgreifende Freiheitsbeschränkungen erforderlich werden und diese aus heutiger Sicht nicht angemessen wären.  

Das EGMR-Urteil vom 9. April ist wegweisend. Es ist jedoch nicht völlig klar, wie es sich auf das nationale Klimarecht der Vertragsstaaten auswirken wird. Es enthält einerseits Aussagen, die der EMRK eine wichtige Rolle dabei zuweisen, die Klimaschutzanstrengungen der  Vertragsstaaten zu prüfen und zu kontrollieren. Andere Stellen beschreiben in differenzierter Weise den notwendigen Gestaltungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers. Das Gericht unterscheidet einerseits zwischen der staatlichen Verpflichtung den Klimawandel zu bekämpfen samt Festlegung der entsprechenden Ziele und andererseits den Mitteln zur Umsetzung der Klimaziele (operational choices and policies). Im ersten Fall haben die EMRK-Vertragsstaaten einen reduzierten, im zweiten einen sehr weiten Spielraum.

Der EGMR betont insgesamt, dass er der Schweiz nicht im Detail vorschreibe, was sie genau für den Klima­schutz zu unternehmen hat, jedoch müssen die EMRK-Vertragsstaaten vorausplanen und wissenschaftsbasiert ihre Treibhausgasemissionen quantifizieren, Treibhausgasbudgets und Emissionsreduktionspfade definieren sowie angemessene Zwischenziele setzen. Sie müssen Nachweise über die Einhaltung ihrer Emissionsreduktionsziele erbringen und diese Ziele kontinuierlich aktualisieren sowie effektiv umsetzen. Viele Staaten verfolgen diesen Ansatz bereits seit einigen Jahren. Hierzu verpflichtet insbesondere das Unionsrecht vor allem durch das Europäische Klimagesetz und die Governance-Verordnung. Damit bleibt die Gewaltenteilung zwischen dem EGMR und dem politischen Meinungs­bildungs- und Umsetzungs­prozess auf der nationalen, kantonalen und kommunalen Ebene prinzipiell gewahrt.

 

Klimaurteile als notwendige Wecker für die nationale Klimapolitik?

Dass Klimaklagen notwendig sind, sei eine Verfehlung der Politik, sagt die Hamburger Rechtsanwältin Roda Verheyen: „Wenn die Politik zu lange pennt, dann regeln das die Gerichte.“ Das ist wohl überspitzt und faktisch auch nicht möglich. Die in den letzten Jahren stark steigende Zahl von Klimaklagen zeigt aber, dass die Klimapolitik  auf allen Ebenen bisher nicht ausreichend war.

Urteile wie im Fall Verein KlimaSeniorinnen sind ein integraler Bestandteil der demokratischen Ordnung und können zu effektiveren Gesetzen und Politiken führen, müssen es aber nicht, wie die Erfahrung in Deutschland seit 2021 zeigt. Das EGMR-Urteil ist eine differenzierte und nuancierte Entscheidung, das gemischte Signale sendet. Sowohl jene, die sich eine aktivere Rolle von Gerichten für einen strengeren Klimaschutz wünschen, als auch diejenigen, die nationale und demokratische Spielräume für die Klimagesetzgebung verteidigen, werden viele Gründe für Lob und Kritik finden.

 

Informationen zu Christoph Müller



Christoph MüllerChristoph Müller lehrt Unionsrecht an der Sigmund Freud Privatuniversität und im Programm „Zukunftsfähiges Wirtschaften für Jurist:innen“ an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er war insgesamt 20 Jahre im Umweltministerium, an der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU sowie im Bundeskanzleramt tätig und studierte Rechtswissenschaften in Innsbruck und Wien.

mail@christophmueller.at

Zur Übersicht