Die EU als Hüterin der Bundesstaatlichkeit Österreichs?

von Teresa Weber, 24.11.2022

Ausgangspunkt

Der vorliegende Beitrag gibt in pointierter Form einige Einblicke in die Thesen meiner Habilitationsschrift „Bundesstaatliche Identitäten und ihre Achtung im Unionsrecht“, die 2022 im Nomos Verlag erschienen ist. Während der Erstellung der Habilitationsschrift wurde mir für das Projekt im Jahr 2018 der Föderalismuspreis verliehen.

Die Grundthese des Buchs lautet, dass der europarechtliche „Stehsatz“ der Bundesstaatenblindheit im Lichte der Verpflichtung der EU-Organe zur Berücksichtigung grundlegender verfassungsmäßiger und politischer Strukturen der Mitgliedstaaten (Art 4 Abs 2 EUV) drastisch an Bedeutung verloren hat. Denn zu den grundlegenden Strukturen im Sinn von Art 4 Abs 2 EUV kann auch die bundesstaatliche Organisation zählen. Inwieweit dies für Österreich, Deutschland und Belgien zutrifft und was das in konkreten Fällen für die Auslegung des Unionsrechts bedeuten kann, analysiert mein Buch. Dazu ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit den völkerrechtlichen Wurzeln des EU-Rechts ebenso erforderlich wie eine Vermessung des Zusammenspiels von EU-Recht und mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht und eine Kartierung der Eckpfeiler der drei bundesstaatlichen Systeme.

Kartierung der Bundesstaatlichkeit: Kompetenzverteilung als Wegweiser

Die Kartierung der Eckpfeiler der drei bundesstaatlichen Systeme sah sich vor die Herausforderung gestellt, dass die Bundesstaatlichkeit so gut wie alle Aspekte einer Rechtsordnung berührt – den Leser:innen dieses Blogs wird bekannt sein, dass Föderalismus kein Nischenthema ist, sondern alle Lebensbereiche und staatliche Wirkungsfelder berührt. Daher war notwendigerweise ein analytischer Rahmen zu bilden, der der weiteren Untersuchung zugrunde gelegt wurde. Eine solche Vorstrukturierung war erforderlich, um aus der Fülle bundesstaatsrelevanter Fragestellungen jene herauszufiltern, die von struktureller Relevanz für das Verhältnis bundesstaatlicher Mitgliedstaaten zur Unionsrechtsordnung sind.

Als Ausgangspunkt dieses analytischen Rahmens wurde die bundesstaatliche Kompetenzverteilung (Verteilung der Verbandskompetenzen) gewählt, wofür neben vielen anderen in der Untersuchung genannten Gründen spricht, dass die bundesstaatliche Kompetenzverteilung Auswirkungen auf die gesamte staatliche Tätigkeit hat und die bundesstaatliche Kompetenzverteilung außerdem der einzige bundesstaatliche Aspekt ist, der bisher in der Rsp des EuGH in Verbindung mit der nationalen Identität iSd Art 4 Abs 2 EUV gebracht wurde. Eine Untersuchung der bundesstaatsrelevanten nationalen Identitäten ausgehend von der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung zu strukturieren, war also einerseits praxisrelevant und eröffnete andererseits den Zugriff auf Strukturprobleme des Verhältnisses bundesstaatlicher Rechtsordnungen zur Unionsrechtsordnung, die nicht nur in spezifischen Einzelfällen schlagend werden, sondern das Verhältnis zwischen einem föderal organisierten Mitgliedstaat und der EU dauerhaft und wiederkehrend belasten können.

Ausgehend von der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung wurden drei Analysekategorien gebildet, von denen hier nur eine angesprochen werden soll: die Frage nach den Konsequenzen einer bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Unter diesem Aspekt wurde zB besprochen, dass (zumindest) dann, wenn den föderalen Hoheitsträgern, also etwa den österreichischen Bundesländern, Rechtsetzungskompetenzen eingeräumt werden, vielfältige Regelungen ermöglicht werden sollen, was auch bedeutet, dass Regelungsunterschiede in Kauf zu nehmen sind. Dies steht in einem potentiellen Spannungsverhältnis zu Gleichheitsgarantien. Dieses Spannungsverhältnis wird in allen drei untersuchten Rechtsordnungen (Österreich, Deutschland, Belgien) von den jeweiligen Verfassungsgerichten zugunsten der bundesstaatlichen Regelungsvielfalt aufgelöst. Zur Rechtfertigung bundesstaatlich bedingter, unterschiedlicher Regelungen wird jeweils auf die bundesstaatliche Organisation und ihre grundlegende Bedeutung für das Verfassungssystem verwiesen. Insoweit kann die in diesen Bundesstaaten jeweils angenommene Relativierung der Gleichheit durch die Bundesstaatlichkeit als Bestandteil der „nationalen Identität“ im Sinn von Art 4 Abs 2 EUV erachtet werden.

Verschlungene Pfade: Zusammenspiel von bundesstaatlicher Organisation und unionsrechtlichen Gleichheitsgarantien

Die in den einzelnen Kapiteln zu den Rechtsordnungen Österreichs, Deutschlands und Belgiens ermittelten bundesstaatlichen Gehalte der nationalen Identität werden im weiteren Verlauf des Buches in Beziehung zum EU-Recht gesetzt. Als besonders markant stellte sich dabei die gerade erwähnte bundesstaatlich bedingte Relativierung von Gleichheitsanforderungen heraus: Bundesstaatliche Rechtssetzungsvielfalt bedeutet auch, aufgrund der Kompetenzverteilung innerhalb eines Bundesstaates mit zweierlei (oder sogar mehr) Maß zu messen. Dieses unterschiedlich-Maß-Nehmen stellt einen Bestandteil der nach Art 4 Abs 2 EUV geschützten nationalen Identität dar.

Es stellt sich dann aber die Frage, wie sich die in den Mitgliedstaaten verankerte bundesstaatliche Vielfalt auf unionsrechtliche Gleichheitsgarantien auswirkt. Im Unionsprimärrecht finden sich einerseits offene Gleichheitsanforderungen an die Mitgliedstaaten (zB der Gleichheitssatz, Art 20 EU-Grundrechtecharta). Andererseits lassen sich aber auch verdeckte Gleichheitsanforderungen ausmachen, so insb bei der Prüfung mitgliedstaatlicher Beschränkungen der Grundfreiheiten und von mitgliedstaatlichen Maßnahmen am Maßstab des Beihilfenverbots.

Der EuGH hat in seiner Rsp zu diesen verschiedenen Gleichheitsanforderungen bereits unterschiedliche Arten der Relativierung vorgenommen, verfolgt dabei jedoch ersichtlich kein übergreifendes, einheitliches Konzept: Im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz schließt der EuGH in einem nicht bundesstaatlich konnotierten Fall das Vorliegen einer relevanten Ungleichbehandlung aus, wenn diese auf die Handlungen mehrerer Rechtsetzer zurückzuführen ist. Im Bereich des Beihilfenrechts spricht der EuGH im Rahmen der Selektivitätsprüfung von der Möglichkeit einer territorialen Beschränkung des Bezugsrahmens, wenn ausreichende Autonomie des fraglichen Rechtsetzers vorliegt – bringt dies allerdings nicht mit dem gerade genannten, zum Gleichheitssatz entwickelten Konzept in Verbindung. Im Bereich der Grundfreiheiten schließlich hat der EuGH mit der Anforderung, dass Beschränkungen auch rechtsetzerübergreifend „systematisch und kohärent” erfolgen müssen, zunächst einen ganz anderen Weg beschritten, dies aber jüngst unter Berufung auf Art 4 Abs 2 EUV und die bundesstaatliche Kompetenzverteilung relativiert.

In all diesen Konstellationen treten strukturell ähnliche Fragen auf. Es handelt sich jeweils um durchzuführende Gleichheitsprüfungen, welche die bundesstaatliche Rechtsetzungsvielfalt gefährden können. Soweit es sich um Bundesstaaten handelt, sind daher die an diese mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gestellten Anforderungen dahingehend zu relativieren, das scheinbare „Ungleichheiten”, die auf Grund der territorialen und sachlichen Beschränktheit der Hoheitsträger auftreten, dem Mitgliedstaat nicht vorgeworfen werden dürfen.

Am Ziel: Die EU als Hüterin der österreichischen Bundesstaatlichkeit?

Durch die verschränkte Betrachtung von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht im Bereich der Bundesstaatlichkeit zeigt meine Habilitationsschrift vor allem die zwei folgenden Aspekte auf:

Erstens kann die nationale Identität im Sinne von Art 4 Abs 2 EUV auch ins Spiel gebracht werden, um vordergründige „Ungleichheiten“, nämlich die Relativierung von Gleichheit im Bundesstaat, im Lichte des Unionsrechts zu legitimieren.

Zweitens könnte im Lichte dessen ein Akteur zum Schutz der mitgliedstaatlichen Bundesstaatlichkeit tätig werden, dem diese Rolle sonst nicht unbedingt zugeschrieben wird: der Europäische Gerichtshof.

Ob dieser seine Rolle wahrnehmen wird können oder müssen wird sich – ebenso wie die praktische Relevanz des Art 4 Abs 2 EUV für den Schutz bundesstaatlicher Gesichtspunkte – zeigen.

Informationen zu Teresa Weber

Teresa WeberTeresa Weber ist als postdoc am Forschungsinstitut für Urban Management and Governance sowie am Institut für Recht und Governance an der WU Wien tätig. Sie studierte Rechtswissenschaften in Wien (Universität Wien, Wirtschaftsuniversität Wien) und Law & Society in Leiden.

Teresa.weber@wu.ac.at