Die Föderalisierung Nepals. Nach langer Reise endlich am Ziel?
von Karl Kössler, 29.06.2015Gleich zu Beginn ist klarzustellen, dass ein Prozess der Föderalisierung natürlich nie endgültig an seinem Ziel ankommen kann, sondern jeder Bundesstaat als dynamisches Konstrukt ständig an sich ändernde politische, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen angepasst werden sollte. Dennoch scheint Nepal am 8. Juni 2015 einen wichtigen Schritt auf diesem Wege gemacht zu haben. Nicht zuletzt angetrieben durch die Herausforderung des Wiederaufbaus nach der jüngsten Erdbebenkatastrophe, kam es zum Abschluss eines 16-Punkte-Abkommens zwischen den vier stärksten Parteien, das unter anderem eine Einigung auf eine Gliederung des Staates in acht Provinzen beinhaltet. Obwohl Nepal gemäß Art. 138.1a der Interimsverfassung eigentlich schon längst eine „föderale demokratische Republik“ sein sollte, konnte die verfassungsgebende Verfassung seit nunmehr fast einem Jahrzehnt keinen Konsens zur konkreten Umsetzung dieser Erklärung erzielen.
Föderalismus in einem multinationalen Staat
Der Knackpunkt besteht bei der Implementierung der föderalen Verfassung insbesondere darin, ob und wie dabei die enorme Vielfalt an Gruppen mit besonderer kultureller, sprachlicher, religiöser, regionaler und kastenbezogener Identität berücksichtigt werden soll. Offensichtlich ist dies in einem Land, in dem die größte Gruppe, die Chhetri, gerade einmal 16% der Bevölkerung ausmacht, eine besondere Herausforderung. Bereits Mitte der 1990er Jahre hatten die heute einflussreichen Maoisten begonnen, das Postulat der Föderalisierung ganz explizit mit den Autonomieforderungen von Minderheiten in Nepals ländlichen Gebieten zu verbinden und sich so in Zeiten ihres Aufstands gegen die Regierung (1996-2006) dieser Bevölkerungsgruppen zu sichern.
Diese Verknüpfung zwischen Bundesstaatlichkeit und Minderheitenschutz ist noch heute aus Art. 138.1 der Interimsverfassung ersichtlich. Diese Bestimmung begreift nämlich die Abschaffung der zentralistischen und einheitsstaatlichen Staatsstruktur ganz ausdrücklich als Mittel zum Zweck der Selbstbestimmung und Beendigung der Diskriminierung benachteiligter Gruppen. Da in den letzten Jahren verschiedene Gruppen auf dieser Basis verschiedene und miteinander unvereinbare Forderungen nach Autonomie gerade „ihres“ Territoriums erhoben, entwickelten sich die Fragen nach der Anzahl der Provinzen sowie deren Grenzen bald zu scheinbar unüberwindbaren Hindernissen.
Die Ziehung der Provinzgrenzen als eigentlicher Lackmustest
Während es in Bezug auf die Anzahl der Provinzen nun Konsens zu geben scheint, ist mit der Frage nach deren territorialer Ausdehnung die weitaus größere Hürde noch nicht genommen. Im Gegensatz zu einigen europäischen Bundesstaaten wie Österreich oder Deutschland, in denen die Grenzen der heutigen Länder überwiegend an Gebiete mit einer über Jahrhunderte historisch gewachsenen Identität anknüpfen konnten, muss Nepal neue Grenzen ziehen und dafür andere Kriterien finden. Denn obwohl das Land seit den 1960er Jahren schrittweise in fünf Entwicklungsregionen, 14 Zonen und 75 Distrikte unterteilt wurde, hat doch keine dieser territorialen Einheiten einer eher formal als in der Praxis dezentralisierten Verwaltung zu einem tatsächlichen „Regionalbewusstsein“ geführt.
Die Frage, ob nun für die neuen Grenzen Kriterien wie wirtschaftliche Kohärenz, geographische Faktoren oder administrative Kapazitäten herangezogen werden sollen oder doch – soweit wie möglich – die Siedlungsgebiete der verschiedenen Minderheiten berücksichtigt werden sollen, wird in Nepal schon seit Jahren äußerst kontrovers diskutiert. Oft wirft man dabei insbesondere einen Blick über die Grenze zum großen Nachbarn Indien. Nachdem man dort ursprünglich aus Angst vor Separatismus den Faktor Sprache als Determinante der Staatsorganisation strikt abgelehnt hatte, wurden 1956 die damals 27 Staaten gemäß ebendiesem Kriterium durch 14 neue Staaten ersetzt. Die rechtliche Basis für diese Neugliederung, die damals nur begonnen wurde und sich bis 2014 zur Gründung von Telangana als mittlerweile 29. Staat fortsetzte, bildet Art. 3 der indischen Verfassung. Jene im internationalen Vergleich außergewöhnliche Bestimmung lässt für die Schaffung neuer Staaten und die Änderung ihrer Grenzen einen einfachen Mehrheitsbeschluss des nationalen Parlaments genügen. Für Nepal ist daher nicht nur die erstmalige bundesstaatliche Gliederung wichtig, die nun von einer Kommission erarbeitet und dann von der verfassungsgebenden Versammlung beschlossen werden soll. Auch die Wahl zwischen einem starken rechtlichen Schutz der einmal festgelegten Grenzen und einer wie in Indien flexiblen Lösung muss getroffen werden.
Insgesamt ist das jüngste Mehrparteienabkommen sicherlich als ein Schritt nach vorne zu betrachten, zumal im Gesamtpaket nicht nur die Einigung auf acht Provinzen, sondern auch auf ein neues Wahlsystem und auf ein – von den Maoisten bisher abgelehntes – parlamentarisches Regierungssystem enthalten ist. Außerdem ebnete es den Weg für Wahlen auf Gemeinde- und Distriktebene, wo es seit mehr als einem Jahrzehnt keine gewählten Volksvertreter gibt. Solange jedoch auf die Frage nach den Grenzen der acht Provinzen keine von den maßgeblichen politischen Kräften akzeptierte Antwort gefunden wird, sollte man den nunmehr seit fast einem Jahrzehnt andauernde Stillstand bezüglich der Verfassungsreform noch nicht für endgültig überwunden erklären.
Informationen zu Karl Kössler
Dr. Mag. Karl Kössler ist Senior Researcher am Institut für Vergleichende Föderalismusforschung an der Europäischen Akademie Bozen.
karl.koessler@eurac.edu
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