Die Organisationsreform des österreichischen Sozialversicherungssystems aus föderaler Sicht

von Peter Bußjäger, 11.10.2018

Im September wurde der Entwurf eines Sozialversicherungs-Organisationsgesetzes (SV-OG, 75/ME) in Begutachtung geschickt. Dieser sieht eine Reduktion der bisher 21 Versicherungsträger auf insgesamt fünf vor. Unter anderem sollen die bisherigen Gebietskrankenkassen und Betriebskrankenkassen zu einer Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) mit Sitz in Wien zusammengeführt werden. Letztere und die Pensionsversicherungsanstalt, die weiterhin fortbesteht, haben in jedem Bundesland eine Landesstelle für das betreffende Bundesland einzurichten, während die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt Landesstellen in Wien, Linz, Salzburg und Graz zu errichten hat.

In einem Gutachten vom April 2018 befasste sich Institutsdirektor Peter Bußjäger mit der föderalen Struktur der Krankenversicherung in Form der neun Gebietskrankenkassen. Diese bilde eine Art Ausgleich dafür, dass die Struktur des Sozialversicherungswesens aus verfassungsrechtlicher Sicht in hohem Maße zentralistisch organisiert sei. Insofern bestehe die Funktion der Gebietskrankenkassen darin, die regionale Gesundheitsversorgung in Kooperation mit den regionalen Akteurinnen und Akteuren auf Landesseite und den Ärztinnen und Ärzte sicherzustellen.

Vor diesem Hintergrund wurden in dem Gutachten folgende Eckpfeiler einer Sozialversicherungsreform definiert:

- Die regionale Einrichtung der Krankenversicherung muss weiterhin ohne Weisungsbindung gegenüber der Zentralstelle den Inhalt des Gesamtvertrages mit der regionalen Ärztekammer einschließlich des Stellenplanes bestimmen.

- Der regionalen Einrichtung der Krankenversicherung muss die Hoheit über die Beiträge der Versicherten zukommen. Sie muss mit diesen Mitteln auch eigenständig, das bedeutet, ohne Weisungsbindung und ohne inhaltliche Vorgaben, wirtschaften können und insbesondere in der Lage sein, die im Gesamtvertrag vorgesehenen Leistungen auch finanzieren zu können.

- Die regionale Einrichtung der Krankenversicherung muss weiterhin Partner des Regionalen Strukturplanes Gesundheit (RSG) sein und darf in dieser Tätigkeit nicht an Weisungen der Zentralstelle gebunden sein.

Auf dieser Basis ist zu hinterfragen, ob im Entwurf eines SV-OG die Kompetenzen der neu einzurichtenden Landesstellen derart ausreichend ausgestaltet sind, dass sie der bisherigen föderalen Bedeutung der Gebietskrankenkassen gerecht werden und die regionale Gesundheitsversorgung gewährleisten:

1. Weisungsbindung

Die Landesstellen sind bei ihrer Geschäftsführung an die Weisungen des Verwaltungsrates, der neben der Hauptversammlung den zweite Verwaltungskörper der ÖGK bildet und bei dem nach den Erläuterungen der Schwerpunkt der Tätigkeit der Selbstverwaltung liegt, gebunden und haben zudem die ihnen ausdrücklich zugewiesenen Aufgaben „nach einheitlichen Grundsätzen und Vorgaben des Verwaltungsrates“ wahrzunehmen. Der Verwaltungsrat kann Beschlüsse der Landesstellenausschüsse aufheben oder ändern. Insofern kann von einer autonomen Aufgabenwahrnehmung der Landesstellen keine Rede sein.

2. Abschluss des Gesamtvertrages

Mit Ausnahme von Verhandlungen gesamtvertraglicher Honorarvereinbarung (regionale Zu- und Abschläge) ist im Entwurf vorgesehen, dass der Abschluss des Gesamtvertrages durch die Hauptstelle der ÖGK erfolgt. Gesamtverträge sind bundeseinheitlich mit der Österreichischen Ärztekammer abzuschließen.

Nach dem derzeitigen System werden die Gesamtverträge zwar vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger abgeschlossen, allerdings sind die Vertragsparteien die einzelnen Krankenversicherungsträger. Der Sinn der Abschlusskompetenz des Hauptverbandes besteht darin, das Vertragsrecht an gewissen einheitlichen Grundsätzen auszurichten. Eine echte Koordinierung durch den Hauptverband findet jedoch in der Praxis nicht statt. Der Gesamtvertrag bedarf der Zustimmung durch den jeweiligen Krankenversicherungsträger, für den der Gesamtvertrag abgeschlossen wird. Damit ist sichergestellt, dass gegen den Willen des Krankenversicherungsträgers kein Gesamtvertrag zustande kommen kann.

Im SV-OG ist eine Einflussnahmemöglichkeit der Landesstellen, wie etwa in Form der bisherigen Zustimmung der Gebietskrankenkassen zum Gesamtvertrag, nicht vorgesehen. Der Abschluss von Gesamtverträgen ist somit vollständig auf zentraler Ebene gelandet. Dies gilt auch für die sogenannten Stellenpläne, die vor allem für die regionale Gesundheitsversorgung von Bedeutung sind.

3. Budgethoheit

Aus dem gegenständlichen Entwurf ergibt sich, dass die Gesamtbudgethoheit bei der Hauptstelle der ÖGK liegt. Da die länderweise Budgetautonomie lediglich Rücklagen und die Verwendung von Mitteln für Gesundheitsreformprojekte umfasst, sind die Landesstellen künftig wohl auf finanzielle Zuwendung seitens der Hauptstelle der ÖGK angewiesen.

4. Zielsteuerung Gesundheit

Mitwirken können die Landesstellen im Rahmen der Zielsteuerung Gesundheit, dies allerdings immer vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Weisungsbindung und wohl ohne ausreichende finanzielle Mittel. Fraglich ist auch, inwieweit eine bloße „Mitwirkung“ ausreichend ist. Zudem ist der Abschluss von Landes-Zielsteuerungsübereinkommen nach dem G-ZG Sache des Verwaltungsrates der ÖGK.

5. Fazit

Aus föderaler Sicht ist die geplante Reform des Sozialversicherungssystems kritisch zu bewerten. Der Abschluss des Gesamtvertrages und die Budgethoheit sind weitgehend auf zentraler Ebene gelandet. Angesichts der umfassenden Weisungsbindung der Landesstellen ist ein autonomes Handeln auf regionaler Ebene nur in sehr begrenztem Rahmen möglich.

 

Informationen zu Peter Bußjäger



Peter BußjägerUniv.-Prof. Dr. Peter Bußjäger ist Direktor des Institutes für Föderalismus und Professor am Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der Universität Innsbruck.




peter.bussjaeger@foederalismus.at

Zur Übersicht