Einheit und Vielfalt in Zeiten der Pandemie

von Eva Maria Belser, 19.03.2021

Die Covid-19-Pandemie, die seit dem Frühjahr 2020 die Welt in Atem hält oder vielmehr um Atem ringen lässt, hat dem schweizerischen Föderalismus eine unerwartete Hochkonjunktur beschert. Es sind jedoch selten die Autonomie der Kantone und ihre Mitwirkungsrechte, das Subsidiaritätsprinzip und die Bürgernähe, von denen die Rede ist. Vielmehr geht es meist um den vielgeschmähten Flickenteppich, der die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen zur Zumutung gereiche und wirksame Massnahmen gegen die Pandemie verunmögliche oder verzögere. Tauchte der Begriff «Flickenteppich» im Jahre 2019 noch rund 600 Mal in der Schweizer Mediendatenbank auf, so wurde er im Jahre 2020 rund 4000 Mal erwähnt – selten, um den Charme dieses aus einzelnen Teilen zu einem stabilen Ganzen verwobenen Teppichtyp zu loben, sondern meist um ihn als veraltetes und letztlich lästiges Machwerk zu verunglimpfen. Die Vielfalt in der Einheit, für die die schweizerische Bundesverfassung steht und die im Flickenteppich versinnbildlicht wird, schien der Schweiz zum Ärgernis geworden zu sein.


Dabei waren es die Kantone, die im Frühjahr 2020 als erste auf Nachrichten aus dem Ausland reagierten. Als das Bundesamt noch dazu riet, die Hände zu waschen und in die Armbeuge zu niessen, erklärten die ersten Kantone bereits den Notstand, stellten Quarantäneunterkünfte bereit und schufen besondere Krisenstäbe. Am 28. Februar 2020 erklärte der Bundesrat die besondere Lage nach Epidemiengesetz und verbot Grossveranstaltungen mit mehr als 1000 Personen. Zahlreiche Kantone, vor allem jene, die von der Pandemie bereits betroffen waren, erliessen strengere Regelungen. Der Föderalismus funktionierte. Dann aber brachte das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen die Kontaktverfolgungssysteme einiger Kantone an ihre Grenzen. Am 13. März verschärfte der Bundesrat deshalb die Massnahmen, erklärte am 16. März die ausserordentliche Lage, beschränkte am 17. März das öffentliche Leben weitgehend und verabschiedete ein erstes Hilfspaket. Damit war der Föderalismus in den vom Gesetz vorgesehenen Krisenmodus versetzt worden. Am 18. und am 20. März erfolgten weitere eidgenössische Verschärfungen und ein weiteres Hilfspaket von 32 Milliarden. Die Kantone sollten nun nur noch vollziehen, was der Bund in Eigenregie entschieden hatte, und allenfalls ergänzende wirtschaftliche Hilfsprogramme beschliessen. Der Kanton Tessin, der über Bundesmassnahmen hinausgehen wollte, wurde zunächst in die Schranken gewiesen. Weil die Bundesverordnungen abschliessend seien, verstosse die kantonale Schliessung von Baustellen gegen Bundesrecht, wurde aus Bern beschieden. Erst nach Verhandlungen wurde mit der «Lex Ticino» vorübergehend ein sogenanntes Krisenfenster geöffnet.


Ab Mitte April lockerte der Bundesrat die Massnahmen. Am 19. Juni beendete er die aussergewöhnliche Lage und wies ab diesem Zeitpunkt immer wieder darauf hin, dass die Verantwortung für die Bekämpfung der Pandemie nun bei den Kantonen liege. Gegen deren Willen hob er auch das Verbot von Grossveranstaltungen auf und hielt fest, dass auch dieses Thema nun von den Kantonen zu behandeln sei. Die Vielfalt, die kurz zuvor zur Störung erklärt worden war, wurde nun vom Bund ausdrücklich erbeten. Im Sommer erliess der Bundesrat eine Maskentragpflicht im öffentlichen Verkehr und hielt damit die Einheit in der Pandemiebekämpfung vorerst für hinreichend gewahrt. Die Beantwortung aller anderen Fragen schien er trotz Heranrücken der zweiten Welle nicht als Aufgabe zu erachten, welche die Kräfte der Kantone überstieg. Erst als die Schweiz unübersehbar in die zweite Welle schlitterte, ergriffen die Kantone eigene weitergehende Massnahmen. Jetzt also, in der zweiten besonderen Lage, wurde die Schweiz zum Pandemiebekämpfungsflickenteppich. Und auf diesem fühlten sich viele Schweizerinnen und Schweizer offenbar nicht wohl. Die Kantone, die doch nun in der Hauptverantwortung standen, sollten offenbar zwar Massnahmen ergreifen, aber bitte alle die gleichen. Erst im Herbst wurde die Subsidiarität wieder anders eingeschätzt. Am 28. Oktober erliess der Bundesrat endlich weitere Massnahmen und beschloss ein Hilfspaket von zusätzlichen 30 Millionen. Einige Kantone, mit Nachdruck dazu aufgefordert, verschärften diese Massnahmen.


Aufgrund des zögerlichen Geschehens während des Sommers prägte Patrick Karpiczenko in der NZZ am Sonntag unter der Rubrik «Neue Wörter braucht das Land» den Begriff «Föderalen». Föderalen (Verb)[fö |de | ra | len] bedeute, «in heiklen Situationen die Verantwortung, die Schuld auf die Kantone schieben». Als Beispiel führt der Journalist an: «Der Bundesrat meinte, das liege im Zuständigkeitsbereich der Kantone. Kurz, er war die ganze Pressekonferenz lang nur am Föderalen.» Tatsächlich hat nicht nur das Ab- bzw. Hin- und Herschieben der Verantwortung, sondern auch die Kommunikation während diesen Monaten irritiert: Hiess es zunächst noch, die Kantone dürfen nicht, so erklang bald der Ruf, die Kantone sollen, die Kantone müssen – der Bund evaluiere die Lage und beschliesse dann in ein paar Tagen selber Massnahmen. Jetzt aber liege der Ball bei den Kantonen, jedenfalls bis am kommenden Freitag.


Tatsächlich haben die Pandemie und ihre Bekämpfung den schweizerischen Föderalismus während der ausserordentlichen und der besonderen Lage, die nun schon so lange andauert, dass sie zu einer neuen Normalität zu werden droht, in ihren Grundfesten erschüttert. Während die meisten Bundestaaten sehr dezentral auf den drohenden Zusammenbruch der Gesundheitssysteme reagiert und teilweise sogar inländische Grenzen geschlossen haben, während auch Einheitsstaaten mit Hilfe von Zonen, Regionen und Ampeln nach massgeschneiderten Lösungen gesucht haben, führte die Krise in der Schweiz vorübergehend zu einer noch nie dagewesenen Machtkonzentration in den Händen des Bundesrats und der Bundesverwaltung. Einheitlichkeit erschien plötzlich das Gebot der Stunde zu sein, obwohl von Anfang an klar war, dass einheitliche Lösungen, die weder ein Abweichen nach oben noch nach unten zulassen, kaum verhältnismässig sein können. Sie orientieren sich notwendigerweise an einer durchschnittlichen epidemiologischen Situation, obwohl die Kantone unterschiedlich stark und zeitlich unterschiedlich von den Ansteckungswellen betroffen waren und sind. Oft schienen die Massnahmen deshalb für einige Kantone – und die in diesen Kantonen lebenden und arbeitenden Personen – zu weit zu gehen, während sie für andere als ungenügend erschienen.


Später, in der besonderen Lage, schien es dem Land schwerzufallen, mit den konkurrierenden Zuständigkeiten umzugehen. Es lag nämlich ab Sommer nicht einfach an den Kantonen, die Hauptverantwortung für die Pandemiebekämpfung zu übernehmen; vielmehr hätten Bund und Kantone diese Last gemeinsam zu tragen gehabt. Dafür fehlten dem Land aber offensichtlich die erforderlichen, krisenresilienten Institutionen. Die Vielzahl von Akteuren, Krisenstäben, Task Forces und anderen ad-hoc Gremien, die zu Beginn der Pandemie wie Pilze aus dem Boden schossen, waren der institutionellen Zusammenarbeit nicht immer förderlich. Ein gemischtes Gremium, in dem Bund und Kantone ge-meinsam Lageanalysen hätten vornehmen können, Massnahmen hätten planen und die Subsidiarität immer wieder neu hätten bewerten können, fehlte. Auch der Grundsatz der fiskalischen Äquivalenz zeigte sich im Sommer in einem unerwarteten Licht und liess den Föderalismus an seine Grenzen stossen: Muss der bezahlen, der befiehlt, ist es weit besser, nicht zu befehlen und auch nicht zu bezahlen. Das geschmähte «Föderalen» hatte denn auch oft weniger mit unklaren Zuständigkeiten und Notwendigkeiten zu tun, als vielmehr mit der Uneinigkeit über die Frage, wem am Schluss die Rechnung verabreicht werden sollte. Die konkurrierende Zuständigkeit führte so zu einem negativen Kompetenzkonflikt, auf den die Rechtsordnung nicht vorbereitet war.


Der Föderalismus hat in der Krise nicht versagt, er wurde aber gründlich herausgefordert – wie übrigens auch die anderen tragenden Pfeiler des schweizerischen Verfassungsrechts, die Demokratie und der Rechtsstaat. Es liegt auf der Hand, dass die Erfahrungen mit der Pandemie eine gründliche Prüfung der föderalen Strukturen und der Zusammenarbeit erfordern. War die Schweiz genügend auf die Krise vorbereitet? Muss sie in der normalen Lage die Vorratshaltung von Schutzmaterial klarer regeln und sich institutionell besser auf langfristige Notstände vorbereiten? Müssen die Zuständigkeiten während der besonderen und der ausserordentlichen Lage präziser geregelt werden? Kann es für eine wirksame Zusammenarbeit ausreichen, dass ein Vertreter der Konferenz der Kantonsregierungen im eidgenös-sischen Krisenstab Einsitz hat? Brauchen die Kantone supra-kantonale Strukturen, um ihre Interessen auch in Krisenzeiten wirksam zu vertreten und Massnahmen rasch und dynamisch koordinieren zu können? Wenn die Krise überstanden ist – oder besser noch vorher – wird es gelten, sich diesen Fragen zu widmen und Lehren für die Zukunft zu ziehen.


Wie auch viele andere Akteure hat sich das Institut für Föderalismus seit März intensiv mit dem Föderalismus und der Covid-19-Pandemie befasst. Auch wenn die meisten allmählich genug vom Thema haben, werden Covid-19 und Föderalismus die Schweiz und ihre Institutionen voraussichtlich auch im nächsten Jahr noch beschäftigen. Während wir weiter damit beschäftigt sein werden, die Pandemie zu bewältigen und ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Auswirkungen abzufedern, wird es auch bereits gelten, die Institutionen und Prozesse einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und Lehren aus Fehlern, Lücken und Unklarheiten zu ziehen. Die wissenschaftliche, rechtliche und politische Aufarbeitung der Krisenbewältigung steht erst am Anfang. Ihr Ziel wird es sein, den wunderbaren Flickenteppich Schweiz noch fitter für Krisen von der Art zu machen, wie wir sie gegenwärtig erleben. Auf einem auf die vielfältige Schweiz aufgeklebten einfarbigen Spannteppich wären wir kaum besser durch die Pandemie gekommen – und auch die kommenden Krisen möchten wir demokratisch, rechtsstaatlich und föderal meistern. Darauf gilt es, sich vorzubereiten.

Informationen zu Eva Maria Belser



Eva Maria BelserEva Maria Belser ist Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht und Ko-Direktorin des Instituts für Föderalismus der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg/Fribourg.

evamaria.belser@unifr.ch

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