Frankreich: Stadt-Land-Gefälle und das Gleichheitsgebot der Republik
von Stefan Seidendorf, 06.10.2019In einer parlamentarischen Enquete setzte sich der Bundesrat der Republik Österreich am 9. Oktober 2019 mit den Chancen und Möglichkeiten der Dezentralisierung auseinander. Das Referat von Dr. Stefan Seidendorf vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg setzt sich mit der Situation in Frankreich auseinander. Nachfolgend finden Sie Teil 2 der Langfassung des Referats. Die Redaktion
1.1. Reformen
Präsident François Hollande führte in seiner Amtszeit (2012-2017) eine dreifache Reform durch (2015-2016): Regionalreform, Verwaltungsreform und Neuzuschnitt der Regionen (Gesetze NOTRe, MAPTAM, Fusion der Regionen[1]).
Schematisch lassen sich drei Ziele von Regionalisierung / Dezentralisierung unterscheiden:
- regionale Identitäten anzuerkennen und diesen Freiraum (Autonomie) zu geben;
- demokratische Entscheidungen näher zu den Bürgern zu rücken und stärker subsidiär zu grundieren;
- ein Gebiet effizienter zu verwalten.
In Hollandes Reformen ging es vor allem um den Effizienz- und Einspargedanken, sekundär auch um die Frage regionaler Mitsprache. Man kann zusammenfassen: François Hollande wollte den republikanischen Einheitsstaat bewahren und modernisieren, indem er Flexibilisierung ermöglichte.
Am Beispiel der „Metropolen“ lässt sich dies gut darstellen. Folgende Instrumente wurden benutzt, um dieser privatrechtlichen Verwaltungszusammenschlüssen Kompetenzen zu übertragen oder zu delegieren: Anstelle der Mitgliedsgemeinden üben die Metropolen nun aus eigenem Recht erweiterte Kompetenzen in den Bereichen wirtschaftliche, kulturelle und soziale Entwicklung und Ausgestaltung der entsprechenden Infrastruktur aus ; Die Metropolen können außerdem auf Antrag staatliche Kompetenzen delegiert bekommen, dies betrifft v.a. die Bereiche Wohnungsbauwesen und Notunterkünfte. Schließlich können die Metropolen aufgrund von Übereinkommen mit dem Departement oder der Region bestimmte Kompetenzen der beiden letzteren ausüben (Verwaltung von Haushaltsmitteln für sozialen Wohnungsbau…).
Im Einzelnen können Hollandes Reformen folgendermaßen zusammengefasst werden:
a) Behutsame Reformen
Alle Verwaltungsebenen (Regionen – Departements – Kommunalverbände – Kommunen) bleiben weiterhin bestehen, die angedachte Abschaffung der Departements wurde wieder zurückgezogen. Die drei Verwaltungsebenen (Kommunen / Departements / Regionen) standen traditionell gleichberechtigt nebeneinander und verfügten je über eine „Allgemeinzuständigkeit“ (clause de compétence générale: Die Gebietskörperschaften waren autonom, Entscheidungen für alle Kompetenzen zu fällen, die sie am besten auf ihrer Ebene umsetzten konnten – die französische Variante von Subsidiarität). Verfassungsrechtlich gab es also keine Hierarchien zwischen den Gebietskörperschaften und keine Abhängigkeiten. Kompetenzzuschreibungen hatten sich de facto und funktional oder wegen fehlender oder vorhanden Finanzmittel entwickelt. Nachdem Hollande die bereits von seinem Vorgänger abgeschaffte Allgemeinzuständigkeit wieder eingeführt hatte, beschränkte er sie in einem zweiten Schritt auf die kommunale Ebene. Seit der Reform sind damit mit Departement und Region zum ersten Mal „spezialisierte Gebietskörperschaften“ entstanden, denen die Verfassung spezielle Kompetenzen zuschreibt. Die einheitsstaatliche Republik wurde also behutsam modernisiert, im Grundgedanken jedoch erhalten
b) Flexibilisieren
Die Anzahl der französischen Regionen wurden von 22 auf 13 reduziert, einige fusioniert und ihre Zuständigkeiten und wahrgenommenen Kompetenzen neu verhandelt. Zum ersten Mal gibt es spezifische Kompetenzen (für Departements und Regionen) in der Verfassung. Die Regionen sind nun in erster Linie Akteure der Wirtschaftsförderung und der Raumplanung, allerdings in Kooperation und Konkurrenz mit Departements und Gemeindeverbänden. Die Departements haben wichtige Aufgaben in der Sozialpolitik. Besonders in den abgelegeneren, ländlichen Departements betrifft dies auch die Kohäsion des ländlichen Raums, da es hier keine Städte oder Gemeinden von entsprechender Größe und Finanzkraft für diese Aufgaben gibt.
Tabelle 1: Kompetenzverteilung in Frankreich (Quelle: Stefan Seidendorf (2016) in: Jahrbuch des Föderalismus: „Die Territorialreform in Frankreich: Republik 2.0?“, S. 301-322, hier 311).
Region |
Departement |
Kommunalverband |
Wirtschaftsförderung (inkl. Unternehmenssubventionen) |
Soziale Daseinsvorsorge |
Aufnahme von fahrendem Volk |
Raumplanung, Abfall- und Ressourcenmanagement |
|
Wasserversorgung, Abfallversorgung, Abwasserentsorgung |
Berufliche Bildung, Ausbildung, Verwaltung der lycées |
Verwaltung der collèges |
Verwaltung der écoles maternelles et primaires |
Straßen- und Schienentransportwesen (inkl. regionaler Schieneninfrastruktur und Schulverkehr) |
Straßenverwaltung |
|
Umwelt und Energiewende, kulturelles Erbe |
|
Tourismusförderung |
c) Ausdifferenzieren
Das Gesetz NOTRe ändert Artikel 72 der Verfassung. Dieser enthält nun weiterreichende Möglichkeiten zur Zusammenlegung und Fusion von bestehenden Gebietskörperschaften, entsprechend funktionaler Notwendigkeiten. Außerdem kann einer Gebietskörperschaft nun per einfachem Gesetz eine bestimmte Kompetenz zugeschrieben werden (unterschiedlich im ganzen Land). Allerdings handelt es sich dabei um „Experimentierklauseln“: Im Rahmen eines Gesetzes kann eine Gebietskörperschaft eine Kompetenz einer anderen ausüben. Dazu müssen die politischen Güter, die realisiert werden sollen, jedoch inhaltlich und zeitlich genau definiert werden. Am Ende sollen die „gelungenen“ Experimente allen Gebietskörperschaften zugänglich gemacht werden, die „gescheiterten“ wieder rückgängig gemacht werden.
Es handelt sich also bei Hollandes Reformen mitnichten um eine Föderalisierung, sondern um die Modernisierung der staatlichen Verwaltung und des Zusammenspiels zwischen regionalen Gebietskörperschaften und Vertretern der zentralstaatlichen Regierung.
1.2. Governance-Instrumente: Koordinierung und Planung
Um das Zusammenspiel zwischen der staatlichen Verwaltung und den verschiedenen Körperschaften zu gewährleisten, wurden eine Reihe von Instrumenten neu eingeführt bzw. modifiziert.
a) Territorialkonferenz
Das Gesetz Maptam vom 27.1.2014 schafft die conférence territoriale de l‘action publique, CTAP (Territorialkonferenz für öffentliches Handeln). Diese bringt die Mandatsträger der unterschiedlichen Körperschaften zusammen, erlaubt die Aufgabenverteilung und Koordinierung. Besonders wichtig wird die Rolle dieser Konferenz in Politikbereichen, zu deren Definition die Ausübung und Koordination zwischen mehreren Kompetenzen, die auf unterschiedliche Ebenen verteilt sein können, notwendig wird.
Die Konferenz wird vom Regionalratspräsidenten geleitet und legt fest, welche Körperschaft die Leitungs- oder Pilotfunktion in einem bestimmten Politikbereich oder Projekt ausübt. Diese kann von Vertretern der Regionen, Departements, Kommunen oder Kommunalverbänden eingenommen werden. Wer wann die Pilotfunktion einnimmt wird im Gesetz nicht definiert, sondern demokratisch entschieden. Dadurch können pragmatische Lösungen je nach Situation gefunden werden. Gleichzeitig kann es zu Konkurrenzsituationen zwischen dynamischen Metropolen und den mit wenig Mitteln ausgestatteten Regionen kommen.
b) Entwicklungspläne
Die nationale Ebene gibt die Politikbereiche vor und definiert den inhaltlichen Rahmen, innerhalb dessen die relevanten Gebietskörperschaften relativ detaillierte Implementierungspläne vorlegen müssen, welche definieren, wie staatliche Politikziele erreicht werden sollen. Probleme gab es hier bisher bei Überschneidungen oder Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Körperschaften, die zu unterschiedlichen Politikbereichen Pläne vorlegen müssen (Wirtschaftsförderung, Unternehmensbeihilfen vs. Raumplanung und soziale Kohäsion). Deshalb gibt es nun präskriptive Planungsinstrumente, die von den anderen beteiligten Körperschaften respektiert bzw. umgesetzt werden müssen.
Regionale Raumplanung:
- Schema zur regionalen Wirtschaftsentwicklung, Innovation und Internationalisierug (Richtlinien im Hinblick auf direkte Unternehmensbeihilfen, Unterstützung bei Internationalisierung und Innovation)
- Schema zur regionalen Raumplanung, nachhaltigen Entwicklung, und Gleichheit der Gebiete. Hier spielen die Departements eine wichtige Rolle, da sie nach wie vor für den sozialen und territorialen Zusammenhalt zuständig sind und Sozialhilfen verteilen
- Ebene der Städte / Gemeindeverbände: Schéma de cohérence territoriale (SCOT) bzw. „InterSCOT“ für Gemeindeverbände, „Plan local d’urbanisme“ mit Elementen für Raumplanung und nachhaltige Entwicklung
c) Mittel
Die finanziellen Möglichkeiten der unterschiedlichen Verwaltungsebenen sind ungleich verteilt. Anders als sich vielleicht vermuten ließe, liegt das finanzielle Schwergewicht auf Ebene der Kommunen. Die Regionen sind dagegen eher nachrangig. 2015 verfügten sie zusammen über einen Haushalt von lediglich 30 Mrd. Euro. Dies sind nur 12,6% der Gesamtausgaben der Gebietskörperschaften. Die Departements tätigen 31,5% der Ausgaben, die lokale Ebene 56%. Der Anteil an Investitionen ist dabei auf Ebene der Departements relativ gering (22%), sie haben dagegen viel mehr zweckgebundene Ausgaben. Die kommunale Ebene tätigt 61% der Investitionen, die Regionen schließlich 17%. Dabei sind die französischen Gebietskörperschaften im europäischen Vergleich relativ gering verschuldet. Der größte Teil ihrer Mittel kommt aus dem staatlichen Haushalt als „dotation globale de fonctionnement“ (DGF), einer anteiligen Zahlung aus der Energiesteuer. Diese Zahlung umfasst u.a. eine „dotation de solidarité rurale“, eine ländliche Solidaritätszahlung, die Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern oder Arrondissements mit weniger als 20.000 Einwohnern zugutekommt, wenn sie mit fehlenden Einnahmen und erhöhten Ausgaben zu kämpfen haben. Die DGF hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen, von 40,1 Mrd. € 2014 auf 30,1 Mrd. € 2017. Diese staatliche Zahlung verteilt sich auf alle Gebietskörperschaften der drei Verwaltungsebenen. Die besonders benachteiligten Gebiete erhalten desweiteren eine gesonderte Ausgleichszahlung (dotation de péréquation), die jedoch ein geringeres Volumen hat (2,6 Mrd € 2018). In zunehmendem Maße macht der Staat den Zugang zu diesen finanziellen Mitteln von der Erfüllung vertraglich vorgegebener Zielvorgaben abhängig (contractualisation).
2. Ausblick: Umsetzung und Weiterentwicklung der Reformen
2.1. Umsetzung
In gewisser Weise läuft die Politik der realen Entwicklung hinterher: Bspw. fand die Fusion der Stadtgemeinschaft / Metropole Lyon und des Department Rhône bereits zum 1. Januar 2015 statt. Die Stadtgemeinschaft / Metropole übernahm vom Departement alle dessen Zuständigkeiten, ohne dass die Politik dies verhindern konnte. Die Reformen Hollandes haben diesen Zustand auch juristisch abgesegnet, das Modell findet nun Nachahmer:
- Paris: Stadtgemeinschaft und Departement fusionieren.
- Die Reformen ermöglichen nun aber auch weitere Möglichkeiten: Die Stadtverbände Aix-en-Provence / Marseille fusionieren, um so „Metropole“ werden zu können.
- Korsika: die beiden Departements und die regionale Gebietskörperschaft fusionieren zu einer „einheitlichen Gebietskörperschaft“ Korsika, mit Inselparlament und Exekutive („Regierung“), die Möglichkeit begrenzter Gesetzgebungskompetenz („lois du pays“) wird kontrovers diskutiert.
- Elsass: beide Departements Hoch- und Niederrhein fusionieren zur „Europakörperschaft Elsass“ und erhalten neue Kompetenzen, im Unterricht der Regionalsprache, bei grenzüberschreitenden Aktivitäten.
2.2. Konsolidierung
Macron legt nun den Schwerpunkt auf eine bessere Strukturierung der verschiedenen Politiken mit Raumbezug (nationale, regionale, departementale, kommunale Ebene). Die Pläne SCOT und SRADDET können in einem partizipativen Prozess unter Einbeziehung der Interessengruppen, Bürgervertreter etc. entwickelt werden. Dabei ist jedoch auf die Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Politiken und den unterschiedlichen Ebenen zu achten (CESE 2019: 59). Im Zweifel können der Regionalpräfekt und die Departementspräfekten von ihrem Aufsichtsrecht Gebrauch machen und (im Nachhinein) einen angenommenen Entwicklungsplan zurückweisen.
2.3. Weiterentwicklung: „Différenciation“ und „Contractualisation“
Der zweite Schwerpunkt Macrons liegt in der Verallgemeinerung der Differenzierungsmöglichkeiten. Zunächst waren diese in der Verfassung nur Experimentierklauseln (Art. 72, 73) und Ausnahmetatbestände, die für eine bestimmte Kompetenz jeweils die Fusion oder Verschiebung zulassen.
Macrons Schlagwort ist nun Différenciation: Ausdifferenzierung dauerhaft zu ermöglichen, unabhängig von der Entwicklung konkreter politischer Güter zu einem bestimmten Zeitpunkt, um so die realen Gegebenheiten (wirtschaftliche Einzugsgebiete, Arbeitskräfte etc., Dynamik oder nicht) und die politischen und Verwaltungsrealitäten zusammenzubringen.
Dies soll einerseits den dynamischen Wachstumsräumen neue Möglichkeiten geben, um Verwaltungsstrukturen zu rationalisieren und die „richtigen“, sprich finanzstarken und demokratisch legitimierten Akteure (Stadtgemeinschaft), an die Entscheidungshebel zu bringen. Andererseits ermöglicht diese Flexibilität eine Beibehaltung der für den ländlichen Raum wichtigen zentralstaatlichen Verwaltungsstrukturen (im Gebirge, in den dünn besiedelten Departements Zentralfrankreichs, in Abwesenheit finanzstarker urbaner Zentren…).
Außerdem ermöglicht das Instrument der Contractualisation die Delegation staatlicher Aufgaben per Vertrag zwischen Zentralstaat und Gebietskörperschaft. Dabei werden die zu realisierenden politischen Güter präzise definiert, die Mittel dazu bleiben jedoch flexibel.
2.4. Forderung nach Bürgerreferendum und anderen partizipativen Elementen
Die Regierung sucht nun nach Instrumenten, die es erlauben, in einem integrierten Ansatz die Koordination und Kooperation zwischen Körperschaften / Ebenen und Bürgern zu verwirklichen. Im neuen Verwaltungszusammenhang soll so das Subsidiaritätsprinzip verwirklicht werden, die Komplementaritäten zwischen Akteuren und Ebenen effizient genutzt werden und die Kompetenz auf der Ebene ausgeübt werden, die am qualifiziertesten dafür ist, den jeweils spezifischen Bedarf zu bedienen (CESE 2019: 67).
Neben dem Eingehen auf die Unzufriedenheit der Bürger mit ihren materiellen Situationen (die Regierung hat die angekündigten Steuererhöhungen verschoben und versprechen, keine Schulen und Krankenhäuser auf dem Land mehr zu schließen) hat die Regierung aus dem Experiment des grand débat national den Schluss gezogen, dass ein Wunsch des ländlichen und periurbanen Raums nach mehr Teilhabe und demokratischer Partizipation besteht und auch gerechtfertigt ist, um Konfrontationen und Unverständnis bereits im Vorfeld politischer Entscheidungen zu begegnen. Dabei kommt Instrumenten der partizipativen Demokratie eine besondere Bedeutung zu (CESE 2019: 62 « La solution se trouve probablement dans l’articulation entre démocratie représentative, démocratie participative et démocratie sociale, qui commence par une clarification du rôle et des responsabilités de chacun et de chacune »). Die Vorschläge gehen dabei in folgende Richtung (cese 2019:66): Für alle großen Infrastrukturprojekte und andere Entscheidungen sollen die Regeln der Validierung von Daten und der good practice im Hinblick auf die Entwicklung und Entstehung von Expertise öffentlich definiert werden. Die Formen der Konzertation sollen diversifiziert werden, mit öffentlichen Anhörungen, Debatten und Befragungen.
Als Beispiel kann Kingersheim (kleine Gemeinde im Elsass) gelten: Dort findet Bürgerbeteiligung über Versammlungen bei allen großen Entscheidungen statt. Die Bürgerversammlungen bestehen zu 40% aus Freiwilligen, 20% direkt Betroffenen und 40% per Los gewählten Bürger. Die Mitglieder dieser Versammlung erhalten im Vorfeld eine Schulung; die gewählten Gemeinderäte treten eher als Moderatoren der Debatte auf, auch wenn sie am Ende die formale Entscheidung treffen müssen (Jo Spiegel / CESE 2019:68).
Zusammenfassung
Anspruchsvolle Bürger und gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformationen: Der Fall Frankreich zeigt, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten wirtschaftlicher Transformation auch und verstärkt ein Problem territorialer Kohäsion ist. Neben den tatsächlichen Schwierigkeiten, dem republikanischen Ideal des gleichen Zugangs zu öffentlichen Dienstleistungen für alle Bürgerinnen und Bürger in Zeiten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels gerecht zu werden, steht die Wahrnehmung und das Gefühl der Benachteiligung und des mangelnden Zugriffs auf Gestaltungsspielräume.
Die Antwort der französischen Regierung bestand zunächst in einer Modernisierung der Verwaltungsinstrumente und des Staatsaufbaus. Bei Beibehaltung der Logik des republikanischen Einheitsstaats ermöglicht die neue Flexibilität eine Berücksichtigung sehr verschiedener (großstädtischer, ländlicher etc.) Gegebenheiten. Die Zukunft muss zeigen, wie sich die Zusammenarbeit in den neu gestalteten Strukturen einspielt und ob sich die erhofften Effizienzgewinne nicht nur auf Einsparungen beschränken (was schon schwierig erscheint), sondern wirklich die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen und der Infrastruktur in der Fläche nachhaltig verbessern kann.
In einem zweiten Schritt versucht die gegenwärtige Regierung, den ländlichen Bevölkerungsteilen mehr und neue Mitsprachekanäle zu eröffnen. Mitsprache und Gehörtwerden können dabei durchaus zu einer breiteren Akzeptanz und einer Teilhabe an Entscheidungen führen, wie die jüngsten Diskussionen in Zusammenhang mit der Überwindung der Gelbwestenkrise gezeigt haben. Es bleibt abzuwarten, ob sich dadurch ein echter Einfluss auf die zu treffenden Entscheidungen ergibt und diese näher an die Präferenzen des „unsichtbaren Frankreichs“ heranrücken. Nach den ersten Erfahrungen scheint es wichtig, partizipative oder direktdemokratische Elemente im lokalen Rahmen einzusetzen, wo die Themen und die Tragweite von Entscheidungen klar beschrieben und definiert werden können. Dazu wäre es jedoch wichtig, dass gerade die Mandatsträger auf der lokalen Ebene auch weiterhin über echten politischen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum verfügen.
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Beitrag zur parlamentarischen Enquête des Bundesrats der Republik Österreich am 9. Oktober 2019, „Nah an den Menschen. Bereit für die Zukunft – Chancen der Dezentralisierung“, Wien, Großer Redoutensaal der Hofburg.
Literaturhinweise
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[1] Maptam: Loi de modernisation de l’action publique territoriale et d’affirmation des métropoles, Januar 2014
Loi relative à la délimitation des régions, Januar 2015
NOTRe : Loi portant sur la nouvelle organisation territoriale de la République, August 2015
Informationen zu Stefan Seidendorf
Dr. Stefan Seidendorf ist stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts (dfi) in Ludwigsburg.
seidendorf@dfi.de
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