In Krisen versagt die Politik - So ginge es besser
von David Stadelmann, 26.04.2022Das öffentliche Interesse an Corona schwindet rasant. Das ist verständlich: Die riesigen wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und psychischen Kosten sind Fakt und unumkehrbar. Zudem ist das Risiko schwerer Gesundheitsschäden nicht mehr nur für Jüngere und Gesunde moderat, sondern auch für die große Mehrheit der Geimpften und Genesenen.
Das darf aber keinesfalls heißen, dass wir jetzt die Corona-Krise schnell vergessen. Denn sie konfrontierte die Gesellschaft mit enormen Herausforderungen. Statt Lösungsorientierung herrschte vorschnelles Politisieren und Moralisieren. Als Ursache dafür sehen wir ein Politikversagen unter Beteiligung von Regierung, Medien und Wissenschaft. Daraus kann man zur Bewältigung zukünftiger Krisen viel lernen.
Politikversagen in der Krise
Politikversagen folgt nicht aus den Fehlern einzelner Politiker oder Parteien, sondern ist eine Folge der Anreize der politischen Handlungsträger. Die Bürger haben allgemein und insbesondere in Krisen kaum Einfluss auf politische Entscheidungen. Ihre Anreize, sich zweckdienlich für diejenige Politik einzusetzen, die sie für die richtige halten, sind deshalb minim. Zu Beginn von Krisen ist es für sie angesichts der allgemeinen Unsicherheit kaum möglich, sich gut zu informieren. Ihnen bleibt deshalb nur, im politischen Prozess ihre Gefühle auszuleben. In Krisen sind politische Debatten deshalb oft gefühlsorientierter, moralisierender und noch weniger vernunft- und lösungsorientiert als sonst. Gefühl und Moralisieren verdrängen Kalkül und rationale Abwägung zum Schaden vieler.
Ohne kalkulierendes Abwägen werden die zur schnellen Krisenüberwindung relevanten Ressourcen nicht wirksam genutzt. So wurde in der Corona-Krise die weitgehende Immunität der Genesenen dann, als sie einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Krise hätte liefern können, nicht durch Grüne Pässe (COVID-Zertifikate) zertifiziert und nutzbar gemacht. Dabei ist die wachsende Immunität in der Bevölkerung infolge Genesung und später Impfung anerkanntermaßen die entscheidende Ressource zur Bewältigung von Pandemien. Während zu Beginn der Krise unklar war, ob und wann ein Impfstoff verfügbar wird und welchen Schutz er bietet, war immer klar, dass die Immunität durch Genesung höchstwahrscheinlich robuster als die Immunität durch Impfung ist. Wichtiger noch war, dass ein Impfstoff bei Impfstart für viele Monate knapp sein würde. Bei einer frühen Zertifizierung möglichst aller Genesenen – also auch unter Einsatz von Antikörpertests zu ihrer systematischen Identifizierung – hätten diese erst nachrangig geimpft werden können. So hätten die zunächst knappen Impfungen effizienter eingesetzt und zahlreiche Todesfälle vermieden werden können.
Doch Moralisieren in der Krise bringt hohen Druck auf Gleichbehandlung und Zentralisierungstendenzen erhöhten diesen Druck. Lange wurde der weitreichende Schutz vor erneuter Erkrankung nach einer Genesung geleugnet und es galt nur als „gerecht“, Genesene den gleichen Einschränkungen auszusetzen wie Nicht-Immune. Politiker und die Verwaltung liebten Gleichbehandlung, solange die Kosten nur schlecht organisierte Minderheiten trafen. Sinnvolle Differenzierung nach Immunität oder schwerem Erkrankungsrisiko, das bekanntlich massiv von Alter und Vorerkrankungen abhängt, hätte ihnen nur mehr Arbeit und mehr Kritik gebracht als die Gleich-Schlecht-Behandlung aller. Deshalb wurden den Immunen erst dann mehr Freiheiten gegeben, als sie durch fortschreitende Durchimpfung und Genesung zur klaren Mehrheit wurden. Doch genau dann war eine Differenzierung fragwürdig: Mit der im Vergleich zur Erkrankung risikoarmen Impfung konnten sich fast alle, die es wollten, gut schützen. Damit erübrigte sich die Bedeutung von COVID-Zertifikaten als Krisenlösungsinstrument weitgehend. Sie hätten dann nur mehr in sensiblen Bereichen wie Altersheimen oder Krankenhäusern gedient sowie zur persönlichen Immunitätsdokumentation.
Politikversagen und Medien
Vernunft- und lösungsorientierte Krisenpolitik mit Differenzierung nach Risiko brächte allen Bürgern einen großen Mehrwert. Doch solche gute Politik entsteht nicht von selbst. Vielmehr braucht es dafür günstige Bedingungen, insbesondere vielfältige und kritische Medien.
In der Corona-Krise verloren viele Medien ihre Kritikfähigkeit gegenüber den politischen Entscheidungsträgern. Sie setzten nicht auf Analyse, sondern auf Panik und Moralisieren. Die weitgehend unkritische Berichterstattung zu Beginn und im Verlauf der Krise war von den Anreizen der Medienschaffenden geprägt.
Zu Beginn von Krisen besteht große Unsicherheit. Entsprechend groß ist der Informationsbedarf der Bürger. Grundsätzlich fänden deshalb alle Berichte zur Krise Aufmerksamkeit, egal ob sie kritisch oder unterstützend für die aktuelle Politik sind. Weil die Medienschaffenden noch unsicher sind, können sie kaum fehlerfreie Analysen liefern. Entsprechend leicht können regierungskritische Beiträge von Regierungen und ihren Kommunikationsabteilungen angegriffen und echte oder vermeintliche Fehler angeprangert werden. Regierungsdienliche Berichte hingegen werden kaum angegriffen. Daraus erwächst ein selbstverstärkender Mechanismus. Je weniger Berichte regierungskritisch sind, desto konzentrierter trifft sie das „Sperrfeuer“ der Regierung. Und je mehr Beiträge regierungsdienlich sind, desto unwahrscheinlicher wird ein einzelner Urheber von regierungskritischen Kreisen angegriffen. Zusätzlich verstärkt wird dieser Mechanismus von der stärkeren Abhängigkeit der Medien von staatlichen Inseraten und Insiderinformationen aus der Verwaltung.
Unter der in Krisen gegebenen Unsicherheit übernehmen rationale Medienschaffende deshalb eher als sonst die Position der Regierungen und sind weitgehend unkritisch. Je länger sie das Krisenmanagement der Regierung beobachten, die Kosten sichtbarer werden und sie über Alternativen etwa aufgrund internationaler Erfahrungen informiert sind, desto leichter fällt es ihnen, schwer angreifbare Kritik zu üben. Doch dann ist es oft zu spät, denn die meisten Schäden schlechter Politik sind bereits entstanden.
Politikversagen und Wissenschaft
Krisen wie eine Pandemie sind ein komplexes Gemenge verschiedener Elemente. Die „richtigen“ Lösungen stehen nicht vorab fest. Die Einschätzung der Krise und die Entwicklung effizienter Strategien zu ihrer Bekämpfung erfordert Expertenwissen aus Virologie, Medizin, Recht, Erziehungswissenschaften, Psychologie, Ökonomie und weiteren Wissenschaften. Dabei widersprechen sich die Empfehlungen zwischen und innerhalb verschiedener Wissenschaften oft. Deshalb war und ist der stereotype Ruf von Politikern auf „Die Wissenschaft“ zu hören, wenig zielführend. Es gibt sie nicht, „Die Wissenschaft“. Vielmehr drohen einzelne Fachdisziplinen zum Spielball der Politik zu werden.
Auf die Nachfrage von Politik und Medien nach Expertise reagieren Wissenschaftler mit einem Angebot. In Normalzeiten ist die Wissenschaft durch intensiven Wettbewerb um die besten Ideen, Methoden und Ergebnisse geprägt. In Krisen wird dieser Wettbewerb durch die Nachfrage aus der Politik unterlaufen. Schnell geht es nicht mehr um die beste Analyse, sondern darum, wer von der Politik angehört und in Expertengremien geladen wird. Diese erarbeiten dann viele Vorschläge. Die Regierung kann die ihr genehmen Vorschläge selektiv herauspicken und immer behaupten, sie verfolge die Empfehlungen „der Wissenschaft“. Die Experten haben kaum Anreize, das höchst selektive Verhalten der Regierung zu kritisieren, denn das würde ihre Bedeutung als Regierungsberater in Frage stellen.
Zudem neigen Experten verständlicherweise dazu, die Bedeutung ihres jeweiligen Fachgebiets hochzuspielen und die Schwere der Krise sowie die potenziellen Gefahren besonders stark zu betonen. Wer vor einer Welle warnt, die dann nicht kommt, verliert wenig und kann argumentieren, die rechtzeitige Warnung habe geholfen, die Krise zu verhindern. Diese Verzerrungen gelten insbesondere für thematisch hochspezialisierte Experten. Wissenschaftler hingegen, die zu sehr unterschiedlichen gesellschaftsrelevanten Themen forschen, haben schwächere Anreize, einzelne Themen besonders hochzuspielen.
Kalkül statt Gefühl
Wenn die Bürger gefühlsorientiert und moralisierend reagieren, gibt das den politischen Entscheidungsträgern und den Medien Anreize, noch gefühlsorientierter und moralisierender zu agieren als gewöhnlich. Doch gerade in der Bekämpfung von Krisen sollten nicht Gefühle, sondern der Verstand wegleitend sein. Das fällt verständlicherweise vielen schwer, geht es doch auch darum, den Wert von Leben und Lebenszeit gegen Materielles abzuwägen. Weil das vielen widerstrebt, sind sie darin ungeübt und haben wegen der Übermoralisierung in der Krise sogar Angst Abwägungen zu treffen.
So behaupteten viele Medien, Politiker und Experten laut, wegen Corona sei die Lebenserwartung massiv gefallen. Doch das liegt vor allem an ihrer Definition. Die Lebenserwartung stellt die durchschnittliche erwartete Restlebenslänge aufgrund der in einem Kalenderjahr gemessenen Sterblichkeit für jedes Alter unter der Annahme dar, dass in Zukunft identische Sterblichkeitsverhältnisse herrschen. Das aber macht bei Corona kaum Sinn. Pandemien wirken zeitlich eng beschränkt, sie gehen vorbei und die Menschen werden gegen schwere Erkrankung weitgehend immun – besser natürlich, falls möglich, auf künstliche, ungefährlichere Weise mittels Impfung. Zudem wirken sich auch die Anti-Corona-Maßnahmen auf die Sterblichkeit inklusive Suizide, was sich derzeit beispielsweise bei den massiven Lockdowns in China zeigt.
Wer kalkuliert, hat schon vor der Impfung einfach abschätzen können, wie viel Lebenszeit bei einer weitgehenden Durchseuchung höchstens verloren geht: So gab es wenige Monate nach dem allerersten Lockdown verlässliche Evidenz, dass die durchschnittliche Sterbewahrscheinlichkeit bei Infektion tiefer als 0.7 Prozent war. Das mittlere Alter der Corona-Verstorbenen lag bei über 80 Jahren und die durchschnittliche Restlebenserwartung 80-jähriger lag vor Corona bei rund 9.3 Jahren. Mit diesen Eckwerten verlören die Einwohner Österreichs bei einer Durchseuchung bis zur Herdenimmunität bei 80 Prozent ohne Impfung im Durchschnitt einmalig 19 Lebenstage. Die breite Durchimpfung insbesondere der Älteren seit Mitte 2021 dürfte die verlorene Lebenszeit nochmals auf rund ein Zehntel dieses Werts senken. Für exaktere und wohl deutlich tiefere Ergebnisse müssten noch die Vorerkrankungen und die genaue Altersverteilung berücksichtigt werden. Natürlich wären die Verluste an Lebenszeit dabei sehr ungleich zwischen Alt und Jung verteilt.
Je nach Perspektive sind die höchstens 19 Tage verlorene Lebenszeit viel oder wenig. So wuchs die Lebenserwartung bei Geburt in Österreich in den letzten 20 Jahren vor der Krise rund 4.1 Jahre oder knapp 75 Tage jährlich. Im weltweiten Vergleich ist die Lebenserwartung in Österreich zwar hoch, aber nach international vergleichbaren Zahlen um 818 Tage tiefer als beim Nachbarn Schweiz. Nur wenige nationale Politiker stellten sich vor Corona oder auch jetzt die Frage, woher diese Lebenszeitlücke zwischen den beiden Ländern kommt und wie sie zu schließen wäre.
Diese Überschlagsrechnungen zeigen Folgendes: Gemessen an anderen Risiken sowie der allgemeinen Entwicklungen ist Corona gesundheitlich zwar relevant. Doch so wie andere Krankheiten trifft sie vor allem einzelne Risikogruppen sehr schwer. Hingegen war schon im Sommer 2020 aufgrund guter Studien bekannt, dass das Sterberisiko beispielsweise für gesunde unter 40-Jährige im Falle einer Infektion rund dem Risiko von drei Jahren Teilnahme am Straßenverkehr in Österreich entsprach, und von normalen Lebensrisiken etwa beim Bergsteigen, Motorradfahren und Fahrradfahren durchaus übertroffen wird.
Ganzheitliche Sicht auf Probleme
Krisenpolitik darf nicht nur eng auf gesundheitliche Aspekte fokussieren, sondern muss aus ganzheitlicher Sicht auf die drei wichtigsten Quellen menschlichen Wohlergehens – Gesellschaft, Wirtschaft und Gesundheit – zielen. Zielkonflikte müssen erkannt und effizient gelöst werden.
Seit Beginn der Pandemie war das Gesundheitssystem von Überlastung bedroht. Diese ist aber nicht nur Folge der Krankheit, sondern der Gesundheitspolitik selbst. Überlastung droht vor allem dann, wenn getreu der gefühlsorientierten Forderung, „Triage muss um jeden Preis verhindert werden“, die knappen Ressourcen allen Patienten gegeben werden, auch jenen mit kurzfristig sehr schlechten Überlebenschancen.
Wer hingegen ganzheitlich denkt, weiß, dass Triage in Form einer Priorisierung der Normalfall ist. Ressourcen – insbesondere auch im Gesundheitsbereich – sind immer knapp. Notärzte müssen bei Unfällen oft entscheiden, wer zuerst Hilfe erhält, und mit der Festlegung von Gesundheitsbudgets wird ganz selbstverständlich über die Überlebenschancen zukünftiger Patienten entschieden. Genauso sind die mehrfachen Lockdowns ebenfalls eine Art Triage-Entscheidungen. Während Triage auf Intensivstationen gut sichtbar ist, wirken Lockdowns oft langsam und indirekt über Wirtschaft, Bildung, Gesellschaft, Psyche, häusliche Gewalt, usw. auf Tod und Leben. Die ganzheitliche Sicht erfordert, möglichst alle diese Wirkungen systematisch abzuwägen.
Lösungsorientierte Rahmenbedingung für Krisen
Mehr „Kalkühl statt Gefühl“ sowie eine ganzheitliche Perspektive kann nicht verordnet werden. Auch können nicht einfach bessere politische Entscheidungsträger eingesetzt werden, die alles vernünftig und breit abwägen. Politiker sind auch nur Menschen, die ihren Anreizen folgen. Um Krisen besser zu meistern braucht es deshalb bessere Rahmenbedingungen.
Lösungswettbewerb durch Föderalismus: In Krisen wird die Politik allzu oft zentralisiert. Doch Zentralisierung schwächt die Anreize der Bürger und Politiker, für ihre regionalen Probleme angepasste Lösungen zu suchen. In Krisen herrschen Unsicherheit und große lokale Unterschiede. Entsprechend unwahrscheinlich bietet eine Einheitspolitik genau die richtige Lösung. Regionale Ansätze erlauben es hingegen, schnell aus Fehlern zu lernen. Zentralisierung verstärkt bestehende Bürokratieprobleme enorm. Bürokratien sind hierarchisch organisiert und hochgradig risikoavers. Mögliche Krisenlösungsansätze von unten finden in der Bürokratie nur langsam ihren Weg nach oben. Experimente werden kaum gewagt und verschiedene Risiken werden oft nicht gegeneinander abgewogen. Zudem leiden große Verwaltungsabteilungen wie nationale Ministerien oft unter einer Art Schweigespirale: Die Bereitschaft von Beamten, unkritisch von oben verordnete Politik zu exekutieren, nimmt mit der Hierarchisierung zu, denn niemand – außer den Obersten – trägt eine klare Verantwortung. Im funktionierenden Föderalismus hingegen gibt es neben dem nationalen Gesundheitsministerium auch kompetente regionale Entscheidungsträger. Diese können glaubwürdig die nationale Politik kritisieren und früh gegensteuern. Föderalismus ist auch ein Labor, um schnell Lösungen für Probleme zu testen und zu finden. Deshalb sollte Dezentralisierung in Krisen eher gefördert als eingeschränkt werden. Unseres Erachtens hat der starke Schweizer Föderalismus dazu beigetragen, dass die Schweiz insgesamt besser – mit weniger Einschränkungen und weniger wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Schäden – als Österreich durch die Krise gekommen ist. So hatten die Kantone einigen Spielraum hinsichtlich gewisser Maßnahmen, und der Bundesrat als eidgenössische Regierung legte den Kantonsregierungen oft alternative Maßnahmen vor, was den kritisch-konstruktiven Diskurs förderte.
Advocatus Diaboli als Medienkritikorgan: In freiheitlichen Demokratien ist der Meinungswettbewerb in den Medien in Normalzeiten recht ausgewogen. In Krisenzeiten ist er aber systematisch zugunsten der Regierung verzerrt. Zur Entzerrung bedarf es einer Art Advocatus Diaboli. Dessen Aufgabe wäre es, nach bestem Wissen und Gewissen alle denkbaren Gegenargumente gegen die vorherrschende Politik- und Medienmeinung zu suchen. Dies soll insbesondere einem Gruppendenken vorbeugen und helfen, am Ende zu angemesseneren, besseren Entscheidungen zu kommen. Analogien verdeutlichen die Relevanz des Advocatus Diaboli: In der Rechtsprechung sucht nicht ein Mensch möglichst unvoreingenommen „die Wahrheit“. Vielmehr suchen sowohl Anklage und Verteidigung je recht einseitig nach den bestmöglichen Argumenten, aufgrund deren dann ein möglichst neutraler Richter feststellt, was „die Wahrheit“ sei. Auch Demokratie und Wissenschaft funktionieren zu Normalzeiten ähnlich. Wir empfehlen deshalb, Mittel aus der heutigen Medienfinanzierung auch gezielt an Medienschaffende zu vergeben, die sich in Krisen auf die Tätigkeit als Advocatus Diaboli spezialisieren. Diese Medienschaffenden müssen durch ein von der Regierung unabhängiges Gremium ausgewählt werden – denkbar wäre ein Gremium aus Experten oder ausgelosten Bürgern. Dank öffentlicher Finanzierung würde die Tätigkeit als Advocatus Diaboli mit Ressourcen ausgestattet, um fundierte Kritik zu erarbeiten. Dank dem expliziten Auftrag zur Kritik müsste ein Advocatus Diaboli nicht fürchten, als unmoralisch hingestellt zu werden.
Gegenvorschlagskommission: Wichtig ist auch, dass jemand die Regierungspolitik kritisch-konstruktiv analysiert und realistische Alternativen entwickeln. Oppositionsparteien sind dazu wenig geeignet, weil sie immer auch das Ziel haben, die Regierung zu schädigen. Wir schlagen deshalb vor, dass es neben Parlament und Regierung eine unabhängige Gegenvorschlagskommission geben soll, die die explizite Aufgabe hat, kluge Alternativvorschläge zu entwickeln. Derartige Kommissionen gibt es zum Beispiel in der Schweiz in Form von volksgewählten Rechnungsprüfungskommissionen auf Gemeindeebene. Sie haben keinerlei Entscheidungsgewalt, sondern einzig die Aufgabe, Kritik zu äußern und konkrete Gegenvorschläge zu entwickeln. So hätten Regierung und Parlament keinen Grund mehr zu behaupten, ihre Politik sei alternativlos, wie dies bei Corona der Regelfall war – selbstverständlich behauptet auch beispielsweise die chinesische Regierung, ihre Politik wäre alternativlos. Die Vorschläge einer speziell beauftragten Gegenvorschlagskommission wirken über wenigstens vier Kanäle. (1) Die Regierung kann die Vorschläge direkt aufnehmen. (2) Die Gegenvorschlagskommission liefert die Informationen an die Medien, den Advocatus Diaboli und damit an die Bevölkerung. (3) Andere Akteure wie Oppositionsparteien können auf der Kritik aufbauend eigene und konstruktivere Vorschläge entwickeln als dies derzeit der Fall ist. (4) Die Regierung wird versuchen, der Kritik der Gegenvorschlagskommission möglichst zuvorzukommen und die offensichtlichsten Mängel ihrer Politik rechtzeitig zu beheben.
Im Falle der Corona-Krise etwa hätte die Gegenvorschlagskommission der Regierung wohl schon früh empfohlen, die Immunität infolge Genesung als wichtigste Ressource wirkungsvoll zu zertifizieren und zu nutzen. Und fast sicher hätte sie angemahnt, die wichtigsten Daten besser zu erheben, wie die Dunkelziffer der Infektionen, die verlorene Lebenszeit der Opfer von schwerer Krankheit und Tod, sowie das Ausmaß der Immunität der Genesenen durch Antikörper und zelluläre Abwehr. Sie hätte vermutlich auch klar auf die praktischen Durchsetzungsprobleme einer allgemeinen Impfpflicht hingewiesen. Weil für die Regierung und Verwaltung die Kritik einer volksgewählten Kommission weit gewichtiger als diejenige einzelner Wissenschaftler und Medien wäre, hätte sie diese Probleme etwas schneller und vor allem effektiver angepackt. Die wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und psychischen Kosten der Krise wären dann etwas kleiner ausgefallen.
Informationen zu David Stadelmann
Prof. Dr. David Stadelmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth und Research Fellow bei CREMA Schweiz (Center for Research in Economics, Management, and the Arts). Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der politischer Ökonomie und der politischen Repräsentation.
david.stadelmann@uni-bayreuth.de
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