«Lobbyierende Kantone: Subnationale Interessenvertretung im Schweizer Föderalismus»

von Rahel Freiburghaus, 30.07.2024

Nicht nur Verbände lobbyieren, sondern auch Regionen: Ausgehend von der Interessengruppen- und Lobbyingforschung wagt Rahel Freiburghaus eine Neubetrachtung des Föderalismus durch einen «Lobbyingfilter». Ihre im Nomos Verlag erschienene und mit dem «Preis für Föderalismus- und Regionalforschung 2024» des Instituts für Föderalismus ausgezeichnete Dissertation «Lobbyierende Kantone: Subnationale Interessenvertretung im Schweizer Föderalismus» setzt beim föderalismustheoretisch herausragenden Mitwirkungspfeiler an («shared rule») an. Gestützt auf eine neue, umfassende Datenbasis beleuchtet die Studie sodann empirisch, wie und wie erfolgreich sich die 26 Schweizer Kantone gegenüber dem Bund Gehör verschaffen.

Im Rahmen dieses Blogbeitrages werden die Kernbefunde der Studie erörtert. Abschliessend wagt er einen Ausblick darauf, welchen konkreten Reformvorschlag die Studie für den Schweizer Föderalismus insgesamt anregt.

Zur föderalismustheoretischen Bedeutung gliedstaatlicher Mitwirkung in (föderalen) Mehrebenensystemen

Etymologisch aus dem Lateinischen foedus abgeleitet, gibt Föderalismus ein machtteilendes Ordnungsprinzip vor, in dem begrenzt eigenständige, nachgeordnete Einheiten zu einem übergreifenden «Bund» zusammengeschlossen sind. «[S]elf-rule plus shared rule» macht dem US-amerikanisch-israelischen Politikwissenschafter Daniel J. Elazar zufolge den Kern des Föderalismus aus. Während sich das «self» auf die Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrechte bezieht, umschreibt «das Gemeinsame» gliedstaatliche Teilhabe an der nationalen Entscheidungsfindung.

Weshalb ist es föderalismustheoretisch zentral, dass die Gliedstaaten an der Bundespolitik mitwirken können? Autonomie und Mitwirkung bedingen sich gegenseitig. Nur, wenn sich Bundesländer, Bundesstaaten, Provinzen, Regionen oder Kantone einbringen können, lässt sich deren Autonomie langfristig schützen. Ansonsten drohen Übergriffe in ihre Hoheiten. Auch stellt gliedstaatliche Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes die «Vollzugstauglichkeit» von Bundesgesetzen sicher – dies, weil die Gliedstaaten allfällige Bedenken zu deren Wirksamkeit und Machtbarkeit vorab anmelden können und durch ihr Sachkenntnisse die Qualität zentralstaatlicher Regulierung insgesamt zu mehren vermögen.

Bisher beschränkte sich die Politikwissenschaft darauf, gliedstaatliche Mitwirkung auf die in der Bundesverfassung ausdrücklich vorgesehenen vertikalen Föderalismusinstitutionen wie insbesondere einer Zweiten Kammer zu beschränken. Allerdings haben sich viele dieser althergebrachten vertikalen Föderalismusinstitutionen längst von ihrem eigentlichen Daseinszweck entfernt: territoriale Interessen zu wahren. Die Einführung der direkten Volkswahl von Senats- bzw. Ständeratsmitgliedern in den USA und der Schweiz ist hierbei ebenso zu nennen wie die Überhandnahme polarisierter Parteipolitik auf Kosten territorialer Erwägungen. In der Summe reichen formaljuristisch normierte Mitwirkungsrechte aus Sicht der gliedstaatlichen Regierungen nicht mehr aus, um die föderalismustheoretisch zwingend gebotene Mitwirkungspflicht einzulösen.

Gliedstaatliche Regierungen haben daher die vielfältigsten Taktiken und Strategien des intergouvernementalen Lobbyings entwickelt, um sich auf informellem Wege in der Bundespolitik einzubringen. Um jene empirische Vielfalt zu systematisieren, leitet die Dissertation ein vierdimensionales Analyseraster (siehe die zugehörige Publikation) her. Anhand griffiger «W-Fragen» erlaubt jenes, intergouvernementales Lobbying international-vergleichend zu untersuchen. Zentral ist hierfür die Gleichsetzung von föderaler Mitwirkung und subnationaler Interessenvertretung einerseits und Gliedstaaten und Interessengruppen andererseits. Dadurch wird die Interessengruppen- und Lobbyingforschung auf eine einträgliche und innovative Weise für die Föderalismusliteratur nutzbar gemacht.

Wie und wie erfolgreich die Schweizer Kantone lobbyieren

Welche jener potentiell unendlich vielen, sich ständig wandelnden Taktiken und Strategien des intergouvernementalen Lobbyings nutzen die 26 Schweizer Kantone bevorzugterweise? Und welche besonders erfolgreich? Für ihre empirische Bestandaufnahme stützt sich Rahel Freiburghaus auf eine breite, systematische Datenbasis, die unter anderem auf einer ausführlichen Befragung aller 26 Staatsschreiberinnen und Staatsschreibern fusst. Letztere Verwaltungsspitzen gelten als «informelles» Mitglied ihrer jeweiligen Kantonsregierung. Sie nehmen mit beratender Stimme an den Regierungssitzungen teil und bilden die zentrale Träger- und Koordinationsinstanz kantonaler Aussenbeziehungen – einschliesslich jener zum Bund.

Empirisch zeigt sich erstens, dass die in der Bundesverfassung ausdrücklich vorgesehenen vertikalen Föderalismusinstitutionen wie etwa der Ständerat (Zweite Kammer), die Standesinitiative oder das Kantonsreferendum zur Nebensache verkommen sind. Einzige Ausnahme bildet das Vernehmlassungsverfahren, welches jedwedem Bundesgesetzgebungsprozess vorausgeschickt wird und an welchem die Kantonsregierungen als ständige Teilnehmer mitwirken.

Zweitens unterstreicht die Studie die enorme Bedeutung informeller bundespolitischer Mitwirkung. Heute dominiert ungezähmtes Kantonslobbying: Das Lobbying der Kantone bedient sich heute denselben Taktiken und Strategien, wie wir es von Verbänden, Interessengruppen, Wirtschaftsvertretern oder NGOs kennen. Will heissen: Die Kantone sponsern Netzwerkanlässe für Bundesbeamte, forcieren den Direktkontakt zu Mitgliedern der Landesregierung höchstpersönlich, mandatieren professionell tätige Lobbyistinnen und Public Relations-Agenturen, setzen auf (soziale) Medienkampagnen und vieles mehr.

Drittens lassen sich drei unterschiedliche Haupttypen lobbyierender Kantone unterscheiden. Die Buchrezension in der NZZ am Sonntag resümiert Freiburghaus’ Typologie wie folgt:

«Da sind die Taktierer wie Bern oder Zürich, die sehr gezielt, dafür umso hartnäckiger Geschäfte beackern. Dann gibt es die diskreten, überwiegend kleineren und ländlichen Kantone, die zurückhaltend ans Werk gehen. Ganz anders die dritte Kategorie, ‹die Maximierer›. Das sind lateinische Kantone, zum Beispiel Genf, die Waadt oder Freiburg, die gern und oft jedes Mittel einsetzen.»

Warum die Schweizer Kantone erfolgreich lobbyieren

Der dritte Teil der Studie widmet sich der klassischen Fragestellung der Interessengruppen- und Lobbyingforschung schlechthin: Wer gewinnt, wer verliert – und warum? Um dies erstmals für die als Interessengruppen gedachten Gliedstaaten zu erörtern, leitet Freiburghaus zunächst fünf mögliche Erfolgsfaktoren gliedstaatlicher Interessenvertretung her (Problem- bzw. Handlungsdruck, frühzeitiges Intervenieren, Allianz- bzw. Koalitionsbildung, Mehrgleisigkeit sowie Lösungsorientierung).

Die vergleichende Analyse aller seit dem Jahre 2000 auf Bundesebene beschlossenen Standortvergaben wie etwa dem Sitz des neu geschaffenen Bundesstraf-, des Bundesverwaltungs- und des Bundespatentgerichts ergibt, dass es im umkämpften Standortwettbewerb nicht auf einen einzigen Erfolgsfaktor ankommt. Kein Erfolgsfaktor alleine erklärt, warum sich ein Kanton durchsetzt. Vielmehr ergeben sich insgesamt fünf unterschiedliche Pfade zum Erfolg kantonaler Interessenvertretung. Der in der Praxis am häufigsten auftretende Pfad lässt sich folgendermassen umschreiben: Wer vom Bund gehört werden will, muss als Kantonsregierung aus eigenem Antrieb aktiv werden, geschickte Allianzen mit anderen Kantonen schmieden und sich gegenüber den Bundesbehörden lösungsorientiert zeigen – beispielsweise, indem der Kanton sein «Vollzugswissen» dem Bund proaktiv zur Verfügung stellt.

Folgerungen für die Föderalismusreformdebatte: Plädoyer für ein ebenenübergreifendes Führungsorgan von Bund und Kantonen

Im Schlusskapitel ihrer Dissertation argumentiert Rahel Freiburghaus, weshalb die gewordene Realität ungezähmt und informell lobbyierender Kantone reformbedürftig ist. Nämlich schafft diese Ungleichheit: Die Kantone wirken nicht mehr gleichberechtigt an der Willensbildung des Bundes mit, wie es im für den Schweizer Föderalismus derart konstitutiven Verfassungsgrundsatz der Gleichheit der Kantone eigentlich vorgesehen wäre. Stattdessen ist bundespolitischer Einfluss eines einzelnen Kantons an bestimmte «glückliche» Kombinationen von Erfolgsfaktoren geknüpft.

Auch ist das dominant gewordene Kantonslobbying prekär. Es fusst nicht länger auf verfassungsmässig geschützten vertikalen Föderalismusinstitutionen, sondern droht jederzeit, wegzubrechen – beispielsweise, weil persönliche, in der Informalität verhaftete Netzwerke nach einem Regierungswechsel neu aufgebaut werden müssen oder Haushaltskürzungen finanziell und/oder personell aufwendige Lobbyingtaktiken plötzlich verunmöglichen.

Um die frühzeitige, sachgerechte und chancengleiche Mitwirkung der Kantone an der Bundespolitik langfristig sicherzustellen, empfiehlt Freiburghaus ein ebenenübergreifendes Führungsorgan von Bund und Kantonen. Darin würden sich ein Ausschuss des Bundesrates mit einer Delegation kantonaler Regierungsmitglieder zusammenfinden, um gemeinsam verbindliche Entscheidungen mit landesweiter Gültigkeit zu fällen.

Was nach einer tiefgreifenden Reformidee klingt, ist in einzelnen Politikbereichen wie etwa der Steuerung der digitalen Verwaltung oder dem Sicherheitsverbund bereits föderale Realität. Es gilt, die sektorspezifischen Erfahrungen zu nutzen, um das Potential eines übergeordneten ebenenübergreifenden Führungsorgans weiter auszuloten.

 

Hinweis: Die als Buch publizierte Dissertation «Lobbyierende Kantone: Subnationale Interessenvertretung im Schweizer Föderalismus» von Rahel Freiburghaus ist im Mai 2024 im Nomos Verlag erschienen. Dank grosszügiger Förderung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) ist es online über die «Nomos eLibrary» im Volltext frei zugänglich. Teile des Blogbeitrags fussen auf einem von der Autorin im Jahre 2021 im «Schweizer Monat» publizierten Artikel sowie einem gemeinsam mit Prof. Adrian Vatter verfassten Beitrag für die «Neue Zürcher Zeitung», deren Auszüge vorliegend stark überarbeitet und erweitert wurden.

Fotocredit: © Florian Spring (NZZ am Sonntag)

Informationen zu Rahel Freiburghaus



Rahel FreiburghausDr. Rahel Freiburghaus arbeitet als PostDoc am Lehrstuhl für Schweizer Politik an der Universität Bern und ist Trägerin des Preises für Föderalismus- und Regionalforschung 2024.

rahel.freiburghaus@unibe.ch

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