Regionalismus in den Ländern der Europäischen Union
von Roland Sturm, 23.12.2016Der Regionalismus in der Europäischen Union hat in der wissenschaftlichen Betrachtung schon viele Themenkonjunkturen hinter sich. Einst war er ein Hoffnungsträger für die Freunde eines „Europa der Regionen“. Dem Nationalstaat wurde nachgesagt, er sei eigentlich überflüssig, weil er – um dem amerikanischen Soziologen Daniel Bell zu zitieren - zu groß sei für die kleinen Probleme der Menschenund zu klein für deren große Probleme. Diese seien nun Angelegenheit der Europäischen Union.
Heute hat Ernüchterung Platz gegriffen, zum einen, was den Funktionsverlust des Nationalstaats betrifft. Hier hat sich der EU-Ministerrat als Forum der Nationalstaaten in der EU deutlich in seinem Verhältnis zur quasi EU-Regierung, zur Kommission, rückgemeldet. Der Maastrichter Vertrag hat zwar einen Ausschuss der Regionen geboren, in dem aber zum einen nicht nur Regionen sitzen und zum anderen eher informelle und beratende Politik gemacht werden kann als gestaltende. Alle mit Parlamenten und Regierungen ausgestatteten europäischen Regionen vertrauen in Brüssel auf die eigene Kraft, haben Vertretungen und organisieren die Repräsentation ihrer Interessen. In der Forschung spricht man davon, dass in Bezug auf das EU-Institutionengefüge zwar nicht ein Europa der Regionen verwirklicht werden konnte, aber doch mindestens ein Europa mit Regionen.
Mindestens auch deshalb, weil der Regionalismus in den Ländern der Europäischen Union zum zweiten Mal nach den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im nationalen Rahmen und im Erfolgsfall auch für die Europäische Union sein Potential entdeckt hat. Der Kern dieses Erkenntnisprozesses ist der Bezug auf regionale Selbstbestimmung und die Forderung nach Autonomie, worauf die davon in erster Linie betroffenen europäischen Zentralstaaten mit Dezentralisierung bzw. Föderalismus antworteten. Eine föderale Umgestaltung von EU-Staaten, wie dies in Belgien geschah, wo es seit 1994 eine föderale Verfassung gibt, sucht den Ausgleich zwischen Autonomieforderungen durch innerstaatliche Anerkennung von regionalen Selbstbestimmungsrechten. Als Zwischenschritt erscheint da die britische Devolution-Politik, die damit begann, staatliche Kompetenzen zu dezentralisieren und Schottland heute mehr Rechte einräumt als die deutschen Länder haben. Dennoch reicht dies zur Befriedung der dortigen Autonomiewünsche nicht. Ähnlich ist die Situation in Katalonien und im Baskenland in Spanien, jedoch bei weit härterem Widerstand des Zentralstaats gegen die Unabhängigkeitsforderungen als in Großbritannien. Die Demokratisierung Spaniens in der Nach-Franco-Zeit ging einher mit der Regionalisierung des Landes. Regionen sind also Spanien nicht fremd und durch die Reform regionaler Statuten sind auch Machtzuwächse für die Regionen bei Zustimmung der Cortes Generales, des spanischen Parlaments, möglich. Sowohl im spanischen als auch im britischen Fall spielt die Europäische Union als Referenzrahmen für autonomistische Bewegungen eine Rolle. Schottland und Kataloniens Nationalisten streben eine eigene EU-Mitgliedschaft an, Spanien und das Vereinigte Königreich wollen diese Perspektive nicht bieten, die aus europäischem Regionalismus eine nationalstaatliche Rolle machen würde. Auch Frankreich hat sich seit 1982 dezentralisiert, allerdings nicht um Autonomierechte zu verteilen, sondern um Staatsaufgaben effektiver wahrnehmen zu können. Die regionale Struktur hat die bestehende zentralstaatliche ergänzt, nicht wie in Belgien, ersetzt. Dennoch sind regionale Parlamente und regionale Regierungen entstanden, die den Nucleus regionaler Bezogenheit bilden können, auch wenn dies nur selten in der Tagespolitik der Fall ist.
Die Europäische Union hat in den historisch gewachsenen Regionen heute überzeugtere Anhänger als in einigen größenmäßig vergleichbaren Kleinstaaten, die Mitglied der Europäischen Union sind. Für die Autonomiebewegungen mag der eigene Nationalstaat keine Heimat mehr sein, Europa aber schon. Eine Ausnahme bilden die Lega Nord, die aber eher eine rechtspopulistische Partei ist, die sich ein Territorium im italienischen Norden erfunden hat, das eben gerade nicht historisch gewachsen ist, und die Sinn Féin-Partei in Nordirland.
Es fällt auf, dass die Forderung, das eigene regionale Schicksal in die Hand nehmen zu dürfen, mehr Unterstützung in wohlhabenden als in armen Regionen Europas findet. Das Streben nach regionaler Kontrolle über regionale Angelegenheiten ist keine Verzweiflungstat der Verarmten. Im Kern stellt die Forderung nach regionaler Selbstbestimmung die Frage nach der Inwertsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Nur dessen konsequente Umsetzung bietet eine Brücke zur Einheit des bestehenden Nationalstaats, falls Region und Staat überhaupt bereit sind, eine solche zu bauen.
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war der Regionalismus in europäischen Ländern für viele nur rückwärtsgewandt und überflüssig. Linke Parteien bevorzugten den proletarischen Internationalismus, also die Verbrüderung der arbeitenden Bevölkerung über Grenzen hinweg und nicht deren regionale Aufteilung. Konservative Parteien betonten immer die Werte von Heimat und Tradition, waren aber skeptisch gegenüber Bemühungen, Nationalstaaten durch alternative politische Strukturen aufzulösen bzw. die Macht des Zentrums zu verwässern und gewachsene Wirtschaftsgebiete aufzuteilen. Der Föderalismus bot in den wenigen EU-Ländern, in denen dieser verwirklicht ist, das sind heute auch nur Deutschland, Österreich und Belgien, eine Alternative zum Grundsatzkonflikt mit dem Zentralstaat. Selbstverständlich aber nicht Konfliktfreiheit, wie beispielsweise die immer wieder umstrittene Finanzverfassung in Deutschland zeigt. Immerhin erkennt der Föderalismus zumindest im Prinzip, wenn auch nicht immer in der Realität an, dass das Zentrum nicht immer Recht haben muss und dass regionale Vielfalt und regionale Autonomie gesellschaftlich und politisch positive Wirkungen haben. In einem Mehrebenensystem wie der EU ist durchaus die Frage zu stellen, wie unterschiedlich stark sich Bürgerinnen und Bürger mit den Ebenen Kommune, Land, Bund und EU identifizieren. In allen EU-Mitgliedstaaten findet man Mehrfachidentitäten mit starker Identifikation mit den Kommunen, die machtpolitisch gelegentlich übersehen werden. Wo die Integration der Region in den Nationalstaat gefährdet ist, wie in Schottland und in Katalonien, beispielsweise überwiegt die regionale Identität der Bürgerinnen und Bürger deutlich ihre nationale.
Da der Regionalismus in den Ländern der Europäischen Union heute friedliebend ist und sich nicht bestreiten lässt, dass in Ländern wie Belgien, dem Vereinigten Königreich oder Spanien Defizite der regionalen Autonomie bestanden oder bestehen, die die Bevölkerung in den betroffenen Regionen und die regionalen Eliten nicht mehr akzeptieren wollten, fällt allenthalben der Blick auf den Föderalismus als mögliches Ziel von Staatsreformen. Um einem Missverständnis vorzubeugen, damit ist nicht der deutsche oder österreichische Föderalismus der Einheitlichkeit und Politikverflechtung gemeint mit wenigen verbliebenen exklusiven Landeskompetenzen, sondern ein Föderalismus der Vielfalt, der die Rolle des Zentralstaats in den Regionen deutlich reduziert. Selbst dieser dezentrale Föderalismus ist einigen Regionalbewegungen nicht genug. Aber immer wieder nötige Kompromisse zwischen regionalen Forderungen und zentralstaatlichem Entgegenkommen haben in der Praxis quasi-föderale Strukturen ermöglicht. In Belgien ist der dezentrale Föderalismus verwirklicht. Im Vereinigten Königreich und in Spanien nicht, auch wenn die Politikwissenschaft beide Fälle, sicher aber den Fall Spanien, als föderal betrachtet.
Neben vielen offenen Problemen bleibt festzuhalten, der Regionalismus ist wieder eine wichtige Kraft in Europa. Er weist uns auf die Bedeutung von Identitäten und Selbstbestimmung hin. Autonomie kann produktiv verwendet, aber auch missbraucht werden. Wichtig ist aber, dass es sie gibt, dass Responsivität und Bürgernähe eine Chance haben. Dazu bedarf es regionaler Kompetenzen, ausreichender Finanzmittel und eines Interessenausgleichs mit dem Nationalstaat.
Dieser Beitrag ist die gekürzte Version eines Vortrags, den der Autor beim Symposium über Rolle und Zukunft der Landesparlamente des Bayerischen Landtags im April 2016 gehalten hat. Die Vollversion finden Sie in der Zeitschrift "Gesellschaft-Wirtschaft-Politik", Ausgabe 4/16, http://www.gwp-pb.de/texte/zeitschr.htm
Informationen zu Roland Sturm
Professor Dr. Roland Sturm, Professor für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat zahlreiche Beiträge zum Föderalismus in Deutschland und in vergleichender Perspektive veröffentlicht. Zum Föderalismus hat er u.a. folgende Bücher veröffentlicht: „Föderalismus“ (2010) und „Der deutsche Föderalismus“ (2015), beide im Nomos Verlag.
roland.sturm@fau.de
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