Warum Gebietskörperschaften letztlich füreinander haften

von Thomas Trentinaglia, 01.08.2016

Als im Bundesland Kärnten die Milliardenhaftungen für die ehemalige Hypo Alpe-Adria-Bank International AG schlagend zu werden drohten, stand die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Landes Kärnten im Raum. Auf den Bund als lender of last resort konnten die Gläubiger vielleicht politisch, aber nicht rechtlich vertrauen, weil eine Einstandspflicht des Bundes für die Schulden der Länder von der überwiegenden Lehre abgelehnt wird. Überlegungen, ob sich aus dem bundesstaatlichen Prinzip eine Einstandspflicht des Bundes ableiten lässt, blieben vereinzelt.

Ein genauerer Blick auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bestätigt diesen Befund nicht. Aus ihr lässt sich ein Haftungsverbund ableiten. Ist eine Gebietskörperschaft zahlungsunfähig, haften alle anderen solidarisch (siehe dazu ausführlich T. Trentinaglia, Gebietskörperschaften im Haftungsverbund im Lichte der Rechtsprechung des EGMR, EuGRZ 2016, 253).

Ausgangspunkt der Überlegungen ist das EGMR-Urteil De Luca gegen Italien vom 24.9.2013. Der EGMR verurteilte die Republik Italien, weil die italienische Gemeinde Benevento, über deren Vermögen ein Gemeindeinsolvenzverfahren eröffnet worden war, eine fällige und von einem italienischen Zivilgericht festgestellte Forderung ihres Gläubigers De Luca unter Hinweis auf das Insolvenzverfahren nicht erfüllte.

Der EGMR begründete die Verurteilung damit, dass die Grundrechte ein faires Verfahren (Art 6 EMRK) und Achtung des Eigentums (Art 1 1.ZPMRK) verlangen und dass gerichtlich zugesprochene Ansprüche gegen die Gemeinde – und damit gegen den Staat – auch zu 100% befriedigt werden müssen. Das ist nicht geschehen. Unzureichende Finanzmittel („Lack of funds“) rechtfertigen den Ausfall der Zahlung nicht.

Das Urteil De Luca kam nicht überraschend und fügt sich nahtlos in eine Vielzahl von Entscheidungen ein, in denen der Zentralstaat, eine lokale Gebietskörperschaft oder ein staatliches Unternehmen gegen sie erlassene Leistungsurteile nationaler Gerichte nicht oder nicht in angemessener Zeit (binnen eines Jahres) erfüllten.

Warum ergibt sich daraus eine Solidarhaftung aller Gebietskörperschaften?

Erstens ist zu bemerken, dass jede Gemeinde, jedes Bundesland, zwar eigene Rechtsperson, aber Teil des Staates ist. Völkerrechtsverletzungen von Teilen des Staates sind dem Staat als Völkerrechtssubjekt zuzurechnen. Zu den Teilen des Staates gehören die Gebietskörperschaften, aber auch andere dem Staat zurechenbare Rechtsträger, unabhängig davon, ob und inwiefern die nationale Verfassung sie mit Autonomie ausstattet bzw eine wechselseitige Haftung füreinander ausschließt.

Zweitens spricht der EGMR in Fällen wie De Luca den Gläubigern regelmäßig eine "gerechte Entschädigung" zu. Die Entschädigung umfasst idR 100% des vor dem nationalen Gericht zugesprochenen Betrags zuzüglich Zinsen, Inflationsabgeltung und einen Ersatz für immaterielle Schäden. Der Gläubiger erwirkt damit vor dem EGMR ein zusätzliches Leistungsurteil, das ihm einen Anspruch nicht gegen den ursprünglichen Schuldner (zB die Gemeinde), sondern gegen den Staat als Völkerrechtssubjekt einräumt.

Drittens kann der Gläubiger das Urteil des EGMR, welches eine Entschädigung zuspricht und den Staat (zB die "Republik Österreich") als verpflichtete Partei bezeichnet, nach den nationalen Bestimmungen durchsetzen. Die "Republik Österreich" ist allerdings nicht rechts- und vermögensfähig. Rechtsfähig sind nur Bund, Länder und Gemeinden. Entscheidend ist nun, dass die Republik Österreich alle Gebietskörperschaften einschließt, also aus dem Bund, allen Ländern und Gemeinden gemeinsam besteht. Alle Gebietskörperschaften, sind daher zur Erfüllung des Urteils gleichermaßen und solidarisch verpflichtet.

Da die Entschädigungsurteile des EGMR nicht unmittelbar vor den nationalen Exekutionsgerichten vollstreckt werden können, kann der Gläubiger seinen Anspruch aus dem EGMR-Urteil beim Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 137 B-VG durchsetzen und so einen Exekutionstitel erwirken. Er kann eine beliebige Gebietskörperschaft oder alle gemeinsam als Solidarschuldner klagen, weil der Gesetzgeber nicht bestimmt hat, wer zur Erfüllung von EGMR-Urteilen innerstaatlich verpflichtet ist.

Ein Bundesland, das ein gegen die Republik Österreich ergangenes EGMR-Leistungsurteil erfüllt, bliebe freilich nicht auf den Kosten sitzen. Es besteht nämlich ein Regressanspruch der erfüllenden bzw vom Gläubiger in Anspruch genommenen Gebietskörperschaft, der sich gemäß § 2 Finanz-Verfassungsgesetz primär gegen die Gebietskörperschaft richtet, die ursprüngliche Schuldnerin war. Ist diese zahlungsunfähig, gilt Abweichendes. Für eine insolvente Gemeinde ist das jeweilige Land, für ein insolventes Land der Bund regresspflichtig.

Ob ein Insolvenzverfahren über eine Gebietskörperschaft gänzlich ausgeschlossen ist, ist trotz des dargestellten Haftungsverbundes nicht eindeutig. Weniger streng ist der EGMR nämlich, wenn der Staat Schulden des Gesamtstaats schneidet, noch bevor der Gläubiger ein Leistungsurteil in Händen hält. In solchen Fällen (zB der griechische Schuldenschnitt bei Staatsanleihen im Jahr 2012, vgl das Urteil des EGMR vom 21.7.2016, Mamatas ua gegen Griechenland) führt der EGMR eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung durch. Ob dies auch für einen gesetzlichen Schuldenschnitt (bzw ein Insolvenzverfahren) zugunsten einer lokalen Gebietskörperschaft gilt, ist noch nicht ausjudiziert. Im Übrigen ist die Unterscheidung zwischen titulierten und nicht titulierten Forderungen nicht nachvollziehbar.

Besteht legistischer Anpassungsbedarf? Um einer Verurteilung durch den EGMR zu entgehen, muss gewährleistet sein, dass ein staatlicher Rechtsträger – wer auch immer – die Verbindlichkeiten der zahlungsunfähigen Gebietskörperschaft spätestens ein Jahr nach Eintritt der Rechtskraft bzw Vollstreckbarkeit des nationalen Gerichtsurteils erfüllt. Der Gesetzgeber könnte, um den Anforderungen der EMRK Genüge zu tun, für diesen Fall beispielsweise eine Bürgenhaftung des Bundes (oder anderer Gebietskörperschaften) vorsehen.

Informationen zu Thomas Trentinaglia



Thomas TrentinagliaDr. Thomas Trentinaglia ist Universitätsassistent am Institut für Öffentliches Wirtschaftsrecht an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Er forscht unter anderem zu Rechtsfragen des "Schuldenschnitts" aus nationaler und internationaler Perspektive.

Thomas.Trentinaglia@jku.at

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