Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich
von Gerhart Holzinger, 20.04.2018Unter dem Titel „Die Verfassungsgerichtsbarkeit: Wesen – Entwicklung – Herausforderung“ hielt der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Dr. Gerhart Holzinger, im Rahmen einer Veranstaltung der Tiroler Juristischen Gesellschaft und des Instituts für Föderalismus einen viel beachteten Vortrag, den wir Ihnen in fünf Teilen zur Kenntnis bringen möchten. Die Redaktion
Unser Land weist auf dem Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit eine lange Tradition auf. Sie reicht bis in die Monarchie, nämlich zur Dezemberverfassung 1867 zurück, also mittlerweile eineinhalb Jahrhunderte. Das damals errichtete Reichsgericht, das 1869 seine Tätigkeit aufgenommen hatte, war insbesondere berufen, über Beschwerden wegen Verletzung der durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte zu entscheiden. Damit war – zum ersten Mal in der Geschichte Europas[1] – der Schutz (eines Teiles) der Verfassung, nämlich der Grundrechte des Einzelnen, einem speziell zu diesem Zweck geschaffenen Gericht anvertraut.
Die republikanische Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 setzte diesen Weg mit der Einrichtung des Verfassungsgerichtshofes fort. Ihm wurde – und das ist die bahnbrechende Neuerung, die mit der Verfassung der damals neu entstandenen Republik verbunden war – vor allem die Aufgabe übertragen, Gesetze – also Akte des demokratisch legitimierten, parlamentarischen Gesetzgebers – auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen und im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit aufzuheben. Diese Zuständigkeit gilt seither geradezu als die Kernaufgabe jeder Verfassungsgerichtsbarkeit.[2]
Die Bestimmungen über den Verfassungsgerichthof in unserer Bundesverfassung gehen bekanntlich auf Hans Kelsen, einen der weltweit bedeutendsten Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts, zurück. Die vom ihm entwickelte Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit, also der Kontrolle der Einhaltung der Verfassung durch ein eigenes, darauf spezialisiertes Gericht, beruht auf folgender grundsätzlicher Überlegung:
Verfassungsrechtliche Streitigkeiten, also Streitigkeiten über die Auslegung und die Anwendung der Verfassung, sind nicht nur politische, sondern auch rechtliche Konflikte. Und als solche können sie durch ein Gericht –mit Mitteln und in den Formen des Rechts – und nicht ausschließlich politisch entschieden werden.
Zur Zeit seiner Entstehung fand dieses österreichische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn man von der damaligen Tschechoslowakei und von Liechtenstein einmal absieht, anderswo kaum Beachtung. Zum Teil, vor allem im Deutschen Reich der Weimarer Republik, stieß es sogar auf vehemente Ablehnung.
Jahrzehnte später aber, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nach leidvollen Erfahrungen mit Diktatur und staatlichem Unrecht, bekam diese in Österreich entwickelte Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit jedoch eine ganz bemerkenswerte internationale Strahlkraft. Den Anfang machten Italien und – bezeichnenderweise – die Bundesrepublik Deutschland, wo 1947 bzw 1949 nach diesem Vorbild Verfassungsgerichte geschaffen wurden.[3] Andere Staaten folgten, so Frankreich,[4] die Türkei,[5] Jugoslawien,[6] Spanien,[7] Portugal[8] sowie – besonders bemerkenswert schon 1982! – Polen[9].
Einen wahren Siegeszug trat sie schließlich Ende der 1980er Jahre mit der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa an. In fast allen Staaten, die von dieser politischen Entwicklung betroffen waren, wurden Verfassungsgerichte eingerichtet.
Ähnliches gilt – über Europa hinaus – für eine Reihe von Staaten in Lateinamerika, Asien und Afrika.
So zählt die 2011 gegründete Weltkonferenz der Verfassungsgerichtsbarkeit mittlerweile (Stand: 2. Oktober 2017) Verfassungsgerichte bzw. sonstige Höchstgerichte mit verfassungsrechtsprechenden Aufgaben aus 112 Staaten zu ihren Mitgliedern.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit kann also mit Fug und Recht als eine österreichische Kulturleistung mit Weltgeltung bezeichnet werden – das ist ein bemerkenswertes, ganz entscheidend mit der Person des großen österreichischen Rechtsgelehrten Hans Kelsen verbundenes Verdienst und als solches wert, immer wieder in Erinnerung gerufen zu werden!
Über die Normenkontrolle, im Besonderen die Prüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit, hinaus kommen dem Verfassungsgerichtshof eine Reihe weiterer Aufgaben zu, die für die Gewährleistung der Verfassungs- bzw. Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns von zentraler Bedeutung sind: so vor allem der Schutz der Grundrechte des Einzelnen gegenüber der staatlichen Verwaltung, die Gewährleistung der Rechtmäßigkeit von Wahlen, die Entscheidung von Kompetenzkonflikten und von Organstreitigkeiten sowie die Staatsgerichtsbarkeit, also die Entscheidung über Anklagen gegen oberste Staatsorgane wegen schuldhafter Rechtsverletzungen in Ausübung ihres Amtes.
[1] Stourzh, Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsdemokratie – die historischen Wurzeln, in Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich (Hrsg.), 70 Jahre Bundesverfassung (1991) 17 (30).
[2] Vgl. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, NJW 1999, 9 (15).
[3] Vgl. Art 134 ff. Verfassung der Italienischen Republik vom 27. Dezember 1947 bzw. Art. 93 f. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949.
[4] Vgl. Art. 56 ff. Verfassung der Französischen Republik vom 4. Oktober 1958.
[5] Vgl. Art. 145 ff. Verfassung der Türkischen Republik vom 27. Mai 1961.
[6] Vgl. Art. 241 ff. Verfassung der Republik Jugoslawien vom 7. April 1963.
[7] Vgl. Art. 159 ff. Verfassung des Königreiches Spanien vom 29. Dezember 1978.
[8] Vgl. Art. 277 ff. Verfassung der Portugiesischen Republik vom 2. April 1976 idF vom 30. Oktober 1982.
[9] Vgl. Art. 33a Verfassung der Republik Polen vom 22. Juli 1952 idF vom 26. März 1982.
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